Schlüsselthema Macht

MertesJesuitenpater Klaus Mertes über Priester, Skandale und Hoffnungen

Der Jesuit Klaus Mertes, 59, ist einer der profiliertesten deutschen Katholiken. Der Theologe, Pädagoge, Aufklärer und Journalist antwortet dem Neuen Ruhr-Wort auf Dauerbrenner-Fragen und wirft einen Blick in die nähere Zukunft der deutschen Kirche:

Sie sprechen oft ein problematisches Priesterbild an, das beim Thema Missbrauch auch eine Rolle spielt. Was bräuchten wir denn für ein gewandeltes Priesterbild?
Mertes: Das Schlüsselthema ist das Thema Macht. Die Dimension gehört beim Priester hinzu, ebenso wie bei Lehrern oder Eltern. Man muss ein reflektiertes Verhältnis zur eigenen Macht haben. Wir brauchen Seelsorger, die dies haben.

Was braucht die Kirche noch im Moment?
Mertes: Die Kirche braucht ein Überdenken und Verändern ihrer Entscheidungsstrukturen. Macht braucht Kontrolle. Wir brauchen Zivilgerichtsbarkeit und Verfahrensklarheit in der Kirche. Einen Sinn für Institutionen, der die Macht von informellen Gruppierungen austrocknet. Eine Schlüsselfrage wird sein, wie Bischöfe ernannt werden. Wir haben in den letzten 20 Jahren erlebt, dass die römische Zentrale Institutionen der Mitsprache beschädigt hat, die es in diesem Bereich gab. Das hat eine verheerende Wirkung auf das Vertrauen gehabt. Fragestellungen müssen geöffnet werden. Die Themen, die den Leuten unter den Nägeln brennen, etwa die Frage nach den wiederverheiratet Geschiedenen oder nach dem Umgang mit gleichgeschlechtlichen Partnerschaften.

Auch das Thema Lebensschutz wäre zu nennen. Man denke an den Skandal um katholische Krankenhäuser in Köln und die „Pille danach“…
Mertes:
Ja, das ist ganz offensichtlich. In letzter Zeit kommt die Veränderung in die Kirche immer nur durch Skandale hinein. Der Kölner Skandal ist ein gutes Beispiel dafür. Irgendwann begreifen alle: So geht’s nicht. Aber vielleicht finden wir ja Wege, mit komplexen Themen so umzugehen, dass wir nicht erst den Skandal brauchen, um das zu begreifen. Das gilt auch für den Missbrauchsskandal.

Noch ein Skandal: die Diskussion um Bischof Tebartz-van Elst.
Mertes:
Es gibt ganz offensichtlich eine zerstörerische Vertrauenskrise, die in innerste Kreise des Klerus und der Gläubigen reicht. Die löst man nicht damit, das man um Vertrauen bittet oder alles auf die vermeintliche böse Presse oder auf schlechte Berater schiebt. Mir scheint das Kernproblem im Falle Limburg nicht das Geld zu sein, sondern das Verhältnis zur Wahrheit. Das gilt auch für die Kommentare, die das alles nur als eine Kampagne abtun und in den Kategorien des Lagerdenkens verweilen. Sie haben gar kein Interesse an der Aufklärung und am seelsorglichen Schaden, der in Limburg und weit darüber hinaus entstanden ist. So wird man nicht weiterkommen.

Welche Herausforderungen gibt es aktuell noch für die Kirche?
Mertes:
Die Tatsache zum Beispiel, dass sich heute Eheschließungen oft bis ins 30. Lebensjahr hinein hinausziehen, stellt uns pastoral vor völlig neue
Situationen im Vergleich zu einer Zeit und einer Sexualmoral, die entstanden ist, als Menschen noch mit 15 oder 17 Jahren geheiratet haben. Die Frage nach menschenwürdigem Sterben wird immer drängender angesichts der Möglichkeiten der modernen Medizin. Was bedeutet die Frauenbewegung? Wir können bestimmte Rollenmuster einfach nicht so weiter führen. Welche Konsequenzen hat das für die Kirchen? Wie kann ein lebendiges Gemeindeleben angesichts des Priestermangels erhalten bleiben?

Da muss auch das Stichwort Zölibat fallen…
Mertes:
Ich halte den Zölibat für eine nachgeordnete Frage. Man kann über den Pflichtzölibat für Priester nachdenken, aber nicht losgekoppelt von den anderen Fragen, zum Beispiel der Frage nach der Ordination der Frauen. Ich lebe selbst zölibatär und halte viel von dieser Lebensform. Ich verstehe den Zölibat auch als eine Form der Solidarisierung mit den Unfruchtbaren, mit denjenigen, die keine Familie haben oder darin gescheitert sind. Es gab eine peinliche Rückmeldung zum Papstinterview, in dem er sagt, man müsse sich auch gescheiterten Beziehungen zuwenden. Dazu schrieb ein Kommentator: „Für treue Ehen hat der Papst kein Wort übrig.“ Aber das ist doch ein Geschenk des Himmels, wenn man in einer gelungenen Ehe lebt. Warum braucht man dann noch das Lob des Papstes?

Weil das normativ richtig ist…
Mertes:
Genau! Man lebt im Richtigen. Es geht um die Bestätigung in der Selbstgerechtigkeit. Wenn ich mich denjenigen zuwende, die leiden, bedeutet das doch nicht eine Abwertung der Ehe. Noch einmal zur Frage nach Zölibat und Rolle der Frau: Was bedeutet der Satz aus dem Galaterbrief, dass es keinen Unterschied mehr gibt? Das wir alle – Mann und Frau – eins sind in Christus? Im Vergleich zum Zölibatsthema scheint mir die männerbündische Struktur das gravierende Thema zu sein. Man kann nicht leugnen, dass der Klerus strukturell anfällig ist für das Gefühl: Wir bleiben unter uns; im Klerus wollen wir lieber nicht „eins sein“ mit Frauen.

Stichwort Deutsche Bischofskonferenz. Sie steht vor Veränderungen mit der Neuwahl des Vorsitzenden im Frühjahr. Was erhoffen Sie sich?
Mertes:
Ich erhoffe mir, dass die nächsten Bischofsernennungen mit einem Hinhören auf Bedürfnisse der jeweiligen Diözesen verbunden sind und nicht einfach nur in kleinen Zirkeln entschieden wird.

Und mit Blick auf die Bischofskonferenz?
Mertes:
Von ihr wünsche ich mir, dass sie etwas von der selbstkritischen Offenheit übernimmt, die Papst Franziskus zurzeit praktiziert.

Wie optimistisch sind Sie, dass sich hier etwas bewegt?
Mertes:
Das Letzte, was ich mir ausreden lasse, ist Hoffnung
dass das Schweigen gebrochen wird“

Zur Person
Pater Klaus Mertes wurde 1954 in Bonn geboren. Als Sohn einer Diplomatenfamilie verbrachte er die ersten elf Lebensjahre im Ausland, in Frankreich und Russland. 1977 trat er in den Orden der Jesuiten ein. Nach dem Noviziat studierte er Philosophie in München und Frankfurt. 1986 empfing er die Priesterweihe.
Mertes war als Lehrer in Frankfurt, Hamburg, Nordirland und Berlin tätig. Von 2000 bis 2011 war er Rektor des Canisius-Kollegs der Jesuiten in Berlin. Anfang 2010 löste Mertes eine Welle von Missbrauchsaufdeckungen und die breite Diskussion des Themas in Kirche und Gesellschaft aus. In einem Brief an die 600 ehemaligen Kollegschüler der be­troffenen Jahrgänge aus den 1970er und 1980er Jahren schrieb er: „Seitens des Kollegs möch­te ich (…) dazu bei­tragen, dass das Schweigen ge­b
rochen wird (…). In tiefer Erschütterung und Scham wiederhole ich zugleich meine Entschuldigung gegenüber allen Opfern von Missbräuchen durch Jesuiten am Cani­sius-Kolleg.“ Seit 2011 ist Klaus Mertes Kollegs­direktor an St. Blasien, Schwarzwald. Mertes gilt als einer der profiliertes­ten deutschen Katholiken.

„Verlorenes Vertrauen“ von Klaus Mertes ist im Herder-Verlag erschienen.

Interview: Hildegard Mathies und Boris Spernol