Gott hat auch ein Herz für die Gegner

Pfarrer Ingo Mattauch hat ein blau-weißes Herz und  sein Projekt, die „Offene Kirche Schalke“, ist ein großer Erfolg.

Ingo Mattauch hat ein blau-weißes Herz und  sein Projekt, die „Offene Kirche Schalke“, ist ein großer Erfolg. Im Gespräch mit Boris Spernol erläutert der Pfarrer von St. Joseph unter anderem, was Christen von Fußball-Fans lernen können.

DSC_0548 Pfarrer Ingo Mattauch hat ein blau-weißes Herz und  sein Projekt, die „Offene Kirche Schalke“, ist ein großer Erfolg.

Pfarrer Ingo Mattauch in blau-weißer Montur

Papst Franziskus gilt als  bekennender Fußball-Fan…

Ingo Mattauch: …das war Papst Benedikt auch.

Bei Franziskus wird das von der Öffentlichkeit mehr wahrgenommen.

Mattauch: Das mag sein.

Papst Franziskus hat jedenfalls vor kurzem gesagt, die Christen sollten sich an den Fußballfans ein Beispiel nehmen. Sie stehen dem Fußball auch sehr nahe. Verstehen Sie, wie er das gemeint hat?

Mattauch: Ja, ich bin oft beim Spiel. (lacht) Ich sehe zwei Aspekte. Das eine ist die Begeisterung, die bei Fußball-Fans deutlich wird für die Mannschaft, für den Verein, die sich auch ausdrückt in großer Freude, wenn ein Spiel gewonnen ist, die aber mal auch einen Verlust verkraftet. Mit ihrer Begeisterung für die Sache können Fußballfans gute Vorbilder für uns als Christen sein: Die Sache Jesu braucht Begeisterte. Und wir als Christen haben auch allen Grund zur Begeisterung, aber nicht nur in einer oberflächlichen Freude von Spaß haben, sondern viel grundlegender durch die Sache Jesu: Wir sind befreit von Verstrickung, Sünde und Schuld und damit auch von ihrer Folge dem Tod. Vom Leben sind wir berufen.

Wir haben einen, Gott der lebensfreundlich und zugleich auch lebensnah ist. Beides hat er uns in Jesus Christus offenbart, und beides sollte auch deutlich werden, wenn wir Gottesdienst feiern. Natürlich kommt beim Papst noch etwas lateinamerikanisches Temperament und Mentalität mit hinein. Wir in Deutschland sind ja etwas zurückhaltender in unserer Freude. Aber diese Freude und Begeisterung auszustrahlen: Fußballfans tun das – richtig hartgesottene Fans auch aus allen Poren heraus, und das stünde uns Christen gut zu Gesicht.

Sie sind Pfarrer im Stadtteil Schalke, wo die Verbindung zum Fußball besonders eng ist.

Mattauch: Ja, man kann ja durch diesen Stadtteil nicht gehen, ohne an vielen Fenstern oder Häuserfassaden oder anderen Dingen in allen Straßenzügen an irgendeinem S04-Logo vorbeizugehen. Ich wünschte mir, wir Christen hätten in diesem Stadtteil eine solche Präsenz, wie der S04 sie hat. Das stünde uns gut zu Gesicht, gerade auch als Ausdruck unserer Begeisterung für die Sache Jesu.

Ist das nicht auch eine Mentalitätsfrage?

Mattauch: Ich glaube die deutsche Kirche ist im Moment sehr mit sich selbst beschäftigt. Das ist vielleicht auch ein Problem, das auch die Kritik des Papstes mit sich bringt, das gilt aber für die westeuropäischen Kirchen überhaupt. Wir erleben in unseren Gesellschaften einen deutlichen Umbruch einen wirklichen Kultur- und Wertewandel, wo wir Christen neu lernen müssen. Früher konnte sich im Gemeindeleben vieles auf Gemeindeebene abspielen, auch im karitativen Sektor.

Die Aufgabe von Kirche ist aber weitreichender: Als  Gesamtgemeinschaft auch einzutreten für alle anderen Menschen, das ist ja die Botschaft Jesu Christi. Ich glaube, da werden wir lernen müssen aus der Begeisterung – und das können wir gut von den Fußballfans lernen: Farbe zu bekennen und Präsenz zu zeigen. Aber nicht nur in Kleidungsaccessoires (lacht), sondern in unserem Tun und Auftreten und Eintreten für Gesellschaft. Es ist nicht so, als hätten wir das nicht, und dennoch müssen wir lernen, genauer darauf zu blicken, was die Menschen in unserem Lebensumfeld bewegt, beschäftigt. Theologisch hat die Kirche das längst erkannt im Zweiten Vatikanum: Gaudium et spes beginnt genau mit diesen Worten: dass nämlich die Hoffnung und Freude und Trauer und Ängste aller Menschen auch die Hoffnung und Freude und Trauer und Ängste der Jünger Jesu Christi sind, wobei wir alle gemeint sind, die wir in der Nachfolge Jesu Christi stehen.

Teilzunehmen und teilzuhaben an dem, was die Menschen wirklich beschäftigt: sowohl im Schönen, in den Freuden als auch in den Erschwernissen des Lebens, in den Sorgen, in dem Kummer und das deutlicher werden zu lassen, konkret in der Begegnung mit den Menschen, mit denen wir leben.

Um sich zu vergegenwärtigen und sich daran zu erinnern, dass es so sein soll.

Mattauch: Und zu wissen woher es rührt, nämlich von Christus. Der sollte uns ja bewegen. Unsere Berührung mit ihm und zu ihm sollte uns wirklich so anrühren, dass es uns auch antreibt, diese Liebe Gottes auch spürbar in den Stadtteil zu leben oder in die Lebensbezüge hineinzubringen. Nicht nur für die Christen, nicht nur da zu sein für die, die ohnehin zu uns gehören, sondern für die Menschen, die mit uns leben. Das wird hier in Schalke noch einmal besonders deutlich, weil wir hier in die Situation geraten sind, dass wir Christen in diesem Stadtteil in der Minderheit sind.

Kann man das beziffern?

Mattauch: Wir haben hier rund 24000 Einwohner und davon, auf beide Konfessionen verteilt, in etwa 10000 Christen. Das zeigt übrigens auch, dass es gut geraten ist, den ökumenischen Aspekt zu leben, um glaubwürdig Zeugnis von Jesu geben zu können. Was hier vor Ort auch gegeben ist: Wir sind nah beieinander, nicht nur von den Immobilien her, sondern auch von unserer Praxis, aber da ist vieles auch durchaus noch ausbau- und steigerungsfähig.

Sie sagten vorhin, sie sähen zwei Aspekte in Franziskus’ Vergleich mit Fußballfans und dem darin innewohnenden Appell.

Mattauch: Ja, das ist die Leidenschaft für die Sache, die eben auch dazu antreibt, Unbequemlichkeiten in Kauf zu nehmen. Das sage ich einmal angesichts der Situation im Bistum Essen, in der wir ja schon viele Kirchen haben schließen müssen, und ich glaube nicht, dass es dabei wird bleiben können. Ich glaube, da werden noch mehrere und weitere folgen, was uns aber nicht aus der Verantwortung bringt, zu überlegen, wie die Christen in diesen Stadtteilen sich dann trotzdem noch vergesellschaften und vergemeinschaften können. Da muss noch einmal genau hineingeschaut werden, aber wir werden den gesamten Immobilienstand nicht erhalten können. Und dann hört man oft: Man wisse ja gar nicht, wie man zur Nachbarkirche kommen solle.

Da bin ich wieder beim Fußball, bei Schalke: zur Arena wissen alle hinzukommen, und zwar egal welchen Alters. Es wird gerne darauf abgehoben, dass gerade unsere Älteren nicht mehr ausreichend Mobilität haben. Das ist zu pauschal, denn es stimmt nur für eine gewisse Anzahl von Älteren. Die Mobilität von Älteren ist sehr unterschiedlich ausgeprägt. Ich erlebe hier auch Hochalterige, die es bei Heimspielen immer wieder schaffen in die Arena zu kommen. Eine Leidenschaft also, die auch Mühen nicht scheut. Ich denke, wenn man in Gelsenkirchen und auch von vielen anderen Städten her zur Arena kommt, dann müsste es auch möglich sein, zu einer Nachbarkirche kommen zu können. Das ist eher eine Frage des Wollens.

Es ist eben auch schmerzlich, das Vertraute aufzugeben.

Mattauch: Ich frage mich manchmal: Sind diese Kirchen noch Kirchen oder werden sie schon zu Götzenbildern, wenn wir nur noch an der Immobilie, an dem Stein hängen? Wo sind wir dann lebendige Kirche? Mir ist schon klar, dass es schmerzlich ist, weil viele auch eine lebendige Biographie mit dem Gebäude verbinden. Wenn ein solcher Ort wegfallen soll, tut das auch weh. Das kann ich verstehen. Aber mit dem Bild, wie wir das gerade in den 70er- und 80er- Jahren theologisch getragen haben – ein Schiff, dass sich Gemeinde nennt –, haben wir die Gemeinde vielleicht zu sehr isoliert und abgeschottet und haben dabei versäumt, deutlich zu machen, dass es sich – wenn wir in dem Bild bleiben wollen –, um eine ganze Armada von Schiffen handelt. Wir brauchen schon auch Orte, wo die Christen, die vor Ort in einem Stadtteil sind und leben, sich vergesellschaften können, aber auch immer wissend, dass wir nicht nur diese Gruppe in diesem Stadtteil sind, sondern zu einem viel größerem auch gehören. Das kann dann auch seinen Ausdruck finden in einer sehr großen Pfarrei.

Die Frage ist, wie sehr Gemeindemitglieder mit ihren Anliegen mitgenommen und ernstgenommen werden.

Mattauch: In der ersten Strukturentscheidung wurde in der Tat nicht immer auf alle Ortseinzelfälle gehört, weil es auch übergeordnete Interessen zu geben schien. Grundsätzlich sollte aber schon gelten, dass wir nah bei den Menschen sein und schauen müssen, wie ihre Lebenswirklichkeiten ausschauen. Das darf sicherlich nicht nur nach dem Zustand der Immobilien gehen. Aber es ist eine andere Frage, ob man so viele Kirchen überhaupt braucht. Gibt es andere Räumlichkeiten im Stadtteil, die man vielleicht auch nutzen könnte?

Wenn ich überlege, wie viele Räumlichkeiten wie viele Gemeinden bereithalten, und dann auf deren Auslastung schaue: Da leisten wir uns meines Erachtens einen sehr großen Luxus – eine Menge umbauten Raumes, den wir beheizen und den wir auch pflegen und erhalten müssen, für den wir Rückladen bilden müssen, für Sanierungsfälle und Renovierungsarbeiten. Da haben wir meist eine Auslastung von wenigen Stunden am Tag. Überwiegend stehen die Räume doch leer. Da muss man schauen, wie man im Stadtteil auch andere Lösungen finden kann – und wo kann man es zum Teil eben auch nicht. Da kommt es wirklich darauf an, dass alle guten Willens  miteinander gehen auch in dem Bewusstsein, dass wir die Kirche, in der wir alle aufgewachsen sind, so nicht mehr herstellen können. Nicht nur, weil Kirche auch Fehler gemacht haben mag in der Pastoral und der Theologie, sondern auch weil die Gesellschaft sich darum herum anders entwickelt.

Bei uns in Schalke gibt es eine große Sehnsucht, vielleicht auch mit einer gewissen Verklärung, nach einem großen Pfarrfest. Übersehen wird dabei, warum es das schon viele Jahre nicht mehr gibt: es fehlten die ehrenamtliche Mitarbeiter, um das im gewohnten Volumen zu stemmen. Ich sage meiner Gemeinde: Wenn wir ein Fest wollen, dann initiieren wir doch ein Stadtteilfest, wo wir unseren Beitrag leisten und die anderen Akteure in diesem Stadtteil mit einladen mitzutun.

Das wären dann ja auch die Schalke-Fans…

Mattauch: Ja, das wären dann auch die Schalke-Fans, die bei uns ja ohnehin schon ein Stück Heimat bekommen durch die „Offene Kirche Schalke“. Da kommen ja S04-Fans von überall, auch aus dem Ausland. Wir haben etwa gute Kontakte zu einer Luxemburger Fangruppe und Fan-Gemeinschaft – eine ganz bewusst christliche Fangruppe, die auch das Christsein hier deutlich in ihren Fanartikeln betont. Nah bei den Menschen sein: Hier in Schalke ist der Fußball sehr prägend. Und wer hier nah bei den Menschen sein will, muss auch nah bei den S04-Fans sein.

Die Frage, ob Fußball und Gott zusammenpassen, muss man Ihnen ja gar nicht mehr stellen…

Mattauch: Also wenn Fußball und Gott nicht passen würden, dann hätten Papst Johannes Paul II. und auch der erste Ruhrbischof, Kardinal Hengsbach, ja gar nicht Ehrenmitglied auf Schalke sein dürfen …

Es wird oft von pseudoreligiösen Aspekten des Fanwesens gesprochen, ganz zu schweigen von dem „Fußballgott“, von dem der damalige Schalke-Manager Rudi Assauer 2001 gesprochen hat.

Mattauch: Es ist völlig klar, dass es nur den einen Gott gibt, der aber ein großes Herz hat für alle Menschen, auch für die Fußballfans. Dabei muss aber jeder Fußballfan immer auch wissen, dass der liebe Gott ein genauso großes Herz für die gegnerische Elf hat (lacht).

Wofür kann ein Fußballfan beten?

Mattauch: Grundsätzlich kann ich alles, was mich beschäftigt, vor Gott tragen. Aber wenn ich spirituell sehr dicht und inhaltlich fühle, ist der richtige Beter ja jener, der aus dem Heiligen Geist heraus betet. Und da geht es dann um ganz andere Werte: Das würde sich im Fußballspiel ausdrücken in Fairplay und in einem guten Spiel.

Mit welcher Erwartungshaltung kommen Schalke-Fans zur Offenen Kirche? Sind sie einfach nur neugierig, weil die Tür offen steht und die Schalke-Fahne vor der Kirche hängt?

Mattauch: Es ist unter anderem genau so. Die Ausgestaltung der Kirche an den Heimspielsamstagen weckt Neugier und Interesse, und manche kommen genau deswegen rein: um zu sehen, was da los ist. Bei manchen bleibt es auch bei einer Art Besichtigungstour, weil wir in unserer Kirche ja das sogenannte Fußballfenster haben, das Bild des Heiligen Aloysius, dem der blau-weiße Schalke-Ball zu Füßen gelegt ist und der auch Fußballschuhe trägt – das ist ein Stück Kultur-Tour. Aber auch die bieten wir gerne an, weil wir auch darin immer missionarisch Kirche sind. Denn mit diesem Fensterbild transportiert sich ein Bild Gottes, der uns Menschen nahe ist und dessen Menschenfreundlichkeit so groß ist, dass auch die kleinen Freuden eines Menschen Raum bei ihm haben und ernstgenommen sind und uns auch vergönnt sind. Es kommen aber auch andere, die teilweise auch das Gespräch suchen.

Worüber?

Mattauch: Ein ganz spannendes Gespräch habe ich mit jemanden geführt, der in die Kirche hineinkam, durchaus an einem Gespräch interessiert war, mir aber sofort in den Eingangsworten erklärte, dass er eigentlich Atheist sei, und der dann hinterher selbst überrascht war, dass er – bevor er aus der Kirche herausging – aus sich heraus doch drei Kerzen angezündet hat für ihn nahestehende Menschen, weil es da auch Sorgen gab, und dass er offenbar doch nicht so atheistisch ist, wie er, als er in Kirche hineinkam, noch von sich selber glaubte.

Da war das, was er für atheistisch hielt, eher eine Enttäuschung aus Lebenshintergründen und Lebensbezügen über die Kirche. Er war eher der Kirche entrückt als dem lieben Gott. Das war vielleicht ein erster Schritt zum Wecken. Der Glaube an Gott ist doch irgendwo noch da, bloß Vertrauen in Kirche ward verloren. Aber das konnte zumindest für den Moment zurückgewonnen werden. Es gibt aber auch Gemeindemitglieder, die einfach die Möglichkeit nutzen, einen Zugang zur Kirche zu haben auch außerhalb von Gottesdienstzeiten. Unsere Kirche ist ja sonst, dafür sprechen viele Gründe, leider tagsüber verschlossen.

Offene Kirche bedeutet, dass Ihre Türen in der Tat auch geöffnet sind. Das senkt die Hemmschwelle, hereinzukommen.

Mattauch:  Das war unser Credo. Es genügt aber nicht, die Tür zwar aufgeschlossen zu haben, aber trotzdem die Tür geschlossen zu halten und davor ein Plakat zu kleben: Kirche offen. Das ist der Fehler vieler offener Kirchen. Man muss aber nichts auf Plakate schreiben, was man viel deutlicher setzen kann, indem man die Türen offen hält.

Was war der Anlass für die Offene Kirche Schalke?

Mattauch:  Als ich meine Stelle hier als Pfarrer angetreten habe, stellte ich direkt in den ersten Wochen fest, dass – an den Heimspielsamstagen besonders – hier sehr viele Menschen im Umfeld der Kirche unterwegs sind. Diese Beobachtung habe ich beim Neujahrsempfang einfach mal meiner Gemeinde erzählt: Wie viel hier los ist, und dass ich es sehr bedauere, dass die Kirche geschlossen ist, und ob sich nicht vielleicht wer fände, der mit mir überlegte, wie wir da Abhilfe schaffen könnten. Und es meldeten sich im Anschluss sofort zwei Gemeindemitglieder. Und als wir dann einen Termin vereinbart haben, hatten sich noch zwei weitere gefunden, so dass wir fünf waren, die angefangen haben zu planen.

Als wir das erste Mal die Kirche öffneten, waren wir acht, von denen ich aber glaubte: von denen kommt doch kein Mensch wieder, denn wir hatten bitterlich gefroren über sechs Stunden, es waren minus sechs Grad und die Kirchentüren standen offen. Aber da greift wieder Papst Franziskus: Begeisterung und Leidenschaft. Wir waren beim nächsten Mal plötzlich zwölf! Wir haben keine Werbung gemacht und auch keine Medienkampagne. Wir haben einfach nur die Türen geöffnet und an diesem ersten Tag kamen zwölf Besucherinnen und Besucher. Wir haben jetzt eine Besucherfrequenz von 40 bis zu 80 Besucherinnen und Besuchern, die mit ganz unterschiedlichen Anliegen kommen.

Sie haben bewusst auf Werbung verzichtet. Wollten Sie vermeiden, dass jemand sagt: Schau mal, jetzt machen die Katholiken auch noch mit Schalke Reklame für sich?

Mattauch: (lacht) Das hat mir so noch keiner gesagt, ich habe es so auch noch überhaupt nicht gesehen. Es wehen inzwischen tatsächlich große S04-Fahnen vor der Kirche, die wir geschenkt bekommen haben von einem Gemeindemitglied, gekauft hätte ich sie nicht. Und eine Frau aus Essen hat einen sehr schmucken Bezug für unsere Poller gehäkelt, weil sie sagte: Ich finde das so toll. Natürlich sind das Hingucker. Offene Kirchen sind kein Novum, und Kirchen, die sich anlehnen an das, was sich in besonderer Weise im Stadtteil ereignet, sind ebenso wenig neu. Aber hier konkret vor Ort ist es doch neu gewesen und es wird überwiegen positiv auf – und angenommen.

Wenn wir über Fußball und Begeisterung reden, müssen wir auch über Fangesänge reden als Ausdruck von Leidenschaft…

Mattauch: …den es auch in unserer Kirche gibt. Ich habe in der Katechese von Schulgottesdiensten den Kindern immer gesagt: Der Ruf vor dem Evangelium, nämlich das Halleluja, ist der eigentliche christliche Jubelgesang oder anders gesagt der Schlacht- und Fangesang wie auf dem Fußballplatz. Das ist unsere große christliche Hymne. Und den Kindern sage ich, wenn das Halleluja erklingt, müssten wir eigentlich aus den Bänken aufspringen. So sind wir jetzt nicht ganz in unseren Kirchen. Wir stehen gesittet auf, aber es hebt uns hoch.

Auch das ist eine Mentalitätsfrage.

Mattauch:  Ich bringe ja nichts in diese Kirche, was nicht schon längst drin wäre, was das Aloysius-Fenster bezeichnet. Es entspricht sogar der Tradition und dem Wesen dieser Gemeinde, die Nähe zu den Fußballfans und ganz konkret zu diesem Verein zu haben. So hat der Pfarrer, zu dessen Zeit das Fenster in die Kirche kam, Franz Kohle, ein enges Verhältnis zum Bruder von Berni Klodt, dem damaligen Schalker Mannschaftskapitän, gehabt. Der Mythos Schalke lebt ja im Wesentlichen davon und hat sich daraus entwickelt, dass früher die Spieler Bewohner in diesem Stadtteil waren, damit auch Mitglieder der Kirchengemeinde. Das war ja alles noch viel urtümlicher. Das findet sich in unserer Kirche im wahrsten Sinne des Wortes bildhaft wieder – und es ist auch der richtige pastorale Ansatz in diesem Stadtteil.

Lässt sich die Offene Kirche Schalke auch auf andere Städte übertragen? Wäre das in Bochum, in Duisburg oder gar in Dortmund möglich?

Mattauch: Hier kommt ja vieles zueinander. Dieser Verein hat von seinem Namen, von seinen Wurzeln her einen Bezug zu den Menschen im Stadtteil. Das hebt Schalke schon einmal von anderen Vereinen ab. Aber es ist auch die geographische Lage: Wir liegen an einer der Hauptverkehrsachsen vom Gelsenkirchener Hauptbahnhof hin zur Arena und erlangen dadurch natürlich viel Aufmerksamkeit. Und die Straßenbahnlinie 302 hat genau vor unserer Kirche ihre Haltestelle. Das hat man an anderen Orten nicht so. Ich war ja auch im Duisburger Süden als Pastor tätig, und da wäre es nicht so möglich. Man muss ganz allgemein schauen, wo die Menschen sind und was sie bewegt. Das ist das, was woanders funktionieren könnte, ob das in anderen Kirchen der Fußball ist oder etwa ganz anderes, muss ich dahingestellt sein lassen.

Das ist wohl das, was man Kairos nennt.

Mattauch: Ja, zur richtigen Zeit das Richtige tun, und das tun wir da – und darum auch der Erfolg: sowohl dass sich innerhalb kürzester Zeit ein Kreis von mehr als 25 Teamplayern gefunden hat, als auch die Besucherfrequenz. Das ist der Ausdruck dafür, dass das genau das Richtige zur richtigen Zeit war und ist.

Zur Person: Ingo Mattauch ist seit Ende 2012 Pfarrer von St. Joseph in Schalke. „Das passt gut zusammen“, befindet der 49-Jährige, der sagt, er sei „von Geburt an Schalke-Fan“. Nach Kindheit und Jugend in Wanne-Eickel wurde Mattauch 1993 zum Priester geweiht. Nach Stationen als Kaplan in Oberhausen und Bottrop wurde er Pfarrer in  St. Rafael in Mülheim, der ersten Kirche, die im Rahmen der Genn’schen Reform geschlossen wurde. Bevor er nach Schalke wechselte wirkte er als Pastor der Pfarrei St. Judas-Thaddäus in Duisburg.

Das Interview ist in Neues Ruhr-Wort, Ausgabe vom 15. März 2013 erschienen