Verkehrte Welt

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(Foto: Jessen)

Am vergangenen Wochenende hat Deutschland sich von seiner besten Seite gezeigt. Die Bilder aus Dortmund oder München, wo hunderte Menschen ankommenden Flüchtlingen ein herzliches Willkommen bereitet haben, senden ein schönes Signal in die Welt. Dass Deutschland zum Sehnsuchtsort von so vielen Menschen geworden ist, vergleichbar vielleicht mit den USA im 19. Jahrhundert, sollte uns mit Freude, mit Stolz erfüllen. Deutschland wird nach diesem Sommer ein anderes Land sein. Bunter, vielfältiger, jünger.

Das ist gut. Aber auch die Länder, aus denen die Flüchtlinge kommen, werden sich verändern. Zum Schlechteren. Syrien verliert eine ganze Generation junger Menschen, die dieses so wunderbare Land wieder aufbauen könnten, wenn das Gemetzel irgendwann endet. Dem Irak droht das Ende der uralten christlichen und jesidischen Kulturen, die ihn geprägt haben.

Deutschland wird im kommenden Jahr schätzungsweise zehn Milliarden Euro für Flüchtlinge ausgeben. Das ist kein Problem, sagt die Bundesregierung. Wenn aber nur ein Bruchteil dieses Geldes für die Versorgung und menschenwürdige Unterbringung in nahen Fluchtorten aufgewendet würde, in der Türkei, Jordanien, dem Libanon oder dem Nordirak, dann würden sich weniger Menschen auf den beschwerlichen und lebensgefährlichen Weg nach Europa machen müssen.

Wenn die internationale Gemeinschaft zusammenstehen und umfangreiche Hilfe leisten und wenn sie entschlossen an Lösungen für die Konflikte im Irak und in Syrien arbeiten würde, dann wären das Inves­titionen in die Zukunft dieser Länder. Tatsächlich nimmt die Hilfe aber ab. In Kobane zum Beispiel können Hilfsorganisationen noch immer nicht den Wiederaufbau anpacken, weil die Grenze für sie dicht ist und die Dörfer noch immer voller Sprengfallen und Minen sind. Im Nordirak müssen die UN-Organisationen WHO, WFP, UNHCR und Unicef ihre Programme herunterfahren, weil sie nicht mehr genügend Geld von den internationalen Gebern erhalten. Gerade einmal 130 Millionen Dollar sind für das zweite Halbjahr zugesagt worden. Das ist erbärmlich. Der Krieg in Syrien tobt weiter, weil die Golfstaaten, der Iran, die Türkei, Russland und die USA weiter ihre Spiele spielen, das Gleiche gilt für den Irak.
Der Wille fehlt

Diese beiden Länder bluten vor den Augen der Weltgemeinschaft aus. Dagegen müssen wir unsere Stimme erheben. Flüchtlinge willkommen zu heißen ist gut. Fluchtursachen zu bekämpfen ist besser. Hört sich einfach an, aber klappt nicht, weil der Wille der Regierungen fehlt , der EU vor allem.

Wir erleben ein kleines Wunder in Deutschland, den Aufstand der Anständigen, die auf einmal tätig Verantwortung übernehmen. Zum Teil überschäumend. Wer die Berge der Hilfsgüter an den Bahnhöfen gesehen hat, weiß, was möglich ist an Hilfen von Bürgern. Soviel, dass die Polizei oder die Caritas (in Wien) bittet, nichts mehr zu bringen, es wäre schon zu viel.

Ähnlich ist es mit dem Willen selbst zu helfen. Wir bei der Caritas-Flüchtlingshilfe Essen e.V. – einem kleinen Verein von Ehrenamtlichen, der noch kein Jahr alt ist – versinken in Anfragen nach ehrenamtlicher Tätigkeit, sodass wir täglich mehrere Stunden beschäftigt sind, zu antworten. Bei der verbandlichen Caritas ist es sehr ähnlich. Und es ist bei der jetzigen Situation mit täglich neuen Flüchtlingen und Herausforderungen kaum möglich, diese Angebote in geordnete Bahnen zu lenken, allen gerecht zu werden. Vom Schüler bis zum Arzt, vom Rechtsanwalt bis zum Geigenbauer melden sich Hunderte allein in Essen bei uns und wollen tätig helfen. Das war in den letzten 40 Jahren noch nie so, außer bei Hochwasserkatastrophen.

Nur, die Verantwortlichen im Verein und bei der Caritas sind erst einmal ausgelastet, die große Zahl an täglich hinzukommenden Flüchtlingen unterzubringen, zu versorgen, ihnen Möbel zu besorgen, Deutsch beizubringen. Der Verein hat viel mehr Lehrer „auf der Liste“ und ebenso viele Anfragen von Flüchtlingen nach Unterricht, als Räumlichkeiten und Menschen, die alles koordinieren. Sozusagen eine „Ehrenamtlichenwelle“. Diese Menschen sollte man nicht enttäuschen. Wir geben alles und haben viele andere im Hintergrund, die uns helfen wollen, zu helfen. Aber selbst das muss gestemmt werden.
Staat muss anpassen

In der „ZEIT-online“ vom 6. September steht:. „Heute sind es wieder die Bürger, die vorangehen. Während die Politik noch diskutiert, übernehmen sie längst staatliche Aufgaben. Sie helfen bei Hausaufgaben und geben Sprachunterricht, begleiten Kranke in Kliniken, dolmetschen auf Ämtern und bei Ärzten, suchen Wohnraum und Jobs. Dauerhaft gelingen können Veränderungen aber nur, wenn auch der Staat seine Regeln anpasst. Sonst scheitert der gesellschaftliche Einsatz an der Bürokratie.“ Das sollte man im Auge halten und uns stärken, um den Ansturm zu meis­tern.

Jan Jessen/Rudi Löffelsend
Vorstandsmitglieder der Caritas-Flüchtlingshilfe Essen e.V.

Gedruckt erschienen in: Neues Ruhr-Wort Nr. 37 vom 12. September 2015. Ihnen hat unser Bericht gefallen? Sie können unsere Wochenzeitung hier ganz bequem abonnieren.