Dass die Worte von Benedikt XVI. bei der Beisetzung von Kardinal Joachim Meisner weithin Beachtung fanden, hat viele Gründe. Zum einen lag es an der stimmlichen Präsenz von Erzbischof Georg Gänswein, die viele Zuhörer mitriss. Hinzu kam die Tatsache, dass die Trauergäste im Kölner Dom die Worte eines Mannes hörten, der seit seinem Rücktritt vom Papstamt zurückgezogen im Vatikan lebt.
Aufwühlend war auch der Inhalt. Benedikt benutzte zwei Vergleiche, die er bereits mehrfach in unterschiedlichen Varianten gebraucht hatte. Und er spitzte sie abermals zu: Wörtlich formulierte er, dass die Kirche heute „besonders dringend überzeugender Hirten bedarf, die der Diktatur des Zeitgeistes widerstehen und ganz entschieden aus dem Glauben leben und denken.“ Dann verglich er den Zustand der Kirche mit einem schwankenden Bot verlässt, auch wenn manchmal das Boot schon fast zum Kentern angefüllt ist.“
In Kommentaren wurde dies als Kritik an denen gedeutet, die heute die Kirche leiten. Um sie richtig einzuordnen, hilft ein Rückblick auf andere Gelegenheiten, bei denen Benedikt XVI. diese Begriffe verwendete. Die „Diktatur des Zeitgeistes“ ist eine Abwandlung des Wortes von der „Diktatur des Relativismus“, die schon der junge Theologe Ratzinger 1961 ausmachte. Damals schrieb er: „Das Auftauchen neuer, weltweiter Perspektiven hat den Abendländer desillusioniert, ihm die Grenzen seiner kulturellen und geschichtlichen Bedeutung bewusst gemacht, aber damit zugleich eine der wichtigsten äußeren Stützen seines Glaubens an die Absolutheit des Christentums weggezogen und ihn einem Relativismus ausgeliefert, der wohl zu den kennzeichnendsten Zügen des Geisteslebens unserer Zeit gehört und untergründig bis weit in die Reihen der Gläubigen hineinreicht.“
Zugespitzt griff Ratzinger dieses Motiv in seiner Predigt vor der Papstwahl am 18. April 2005 auf: „Einen klaren Glauben nach dem Credo der Kirche zu haben, wird oft als Fundamentalismus abgestempelt, wohingegen der Relativismus, das sich ‚vom Windstoß irgendeiner Lehrmeinung Hin-und-hertreiben-lassen‘, als die heutzutage einzige zeitgemäße Haltung erscheint“, sagte er im Petersdom. „Es entsteht eine Diktatur des Relativismus, die nichts als endgültig anerkennt und als letztes Maß nur das eigene Ich und seine Wünsche gelten lässt.“ In derselben Predigt, die ihn zum Favoriten der konservativen Kardinäle beim Konklave werden ließ, kam auch das Bild des schwankenden Bootes vor, das Bibellesern vom Sturm auf dem See Genezareth vertraut ist. Ratzinger erklärte: „Das kleine Boot des Denkens vieler Christen ist nicht selten von diesen Wogen zum Schwanken gebracht, von einem Extrem ins andere geworfen worden.“
Vom Untergang bedrohte Schiffe waren auch ein Motiv in seiner ersten Grundsatzrede als Papst im Dezember 2005. Diesmal zitierte er einen Kirchenvater aus dem vierten Jahrhundert, um den Richtungsstreit zwischen Konservativen und Liberalen in der Kirche zu beschreiben. Der große Kirchenlehrer Basilius habe die Lage der Kirche nach dem Konzil von Nikäa mit „einer Schiffsschlacht in stürmischer Nacht“ verglichen.
Die Beobachtung, dass das „Schifflein Petri“ (ein altes Sinnbild für die Kirche) von Wellen bedroht ist, stand auch bei seiner sensationellen Rücktrittserklärung vom Papstamt am 10. Februar 2013 im Mittelpunkt. Damals führte er aus: „Die Welt, die sich so schnell verändert, wird heute durch Fragen, die für das Leben des Glaubens von großer Bedeutung sind, hin- und hergeworfen. Um trotzdem das Schifflein Petri zu steuern und das Evangelium zu verkünden, ist sowohl die Kraft des Köpers als auch die Kraft des Geistes notwendig, eine Kraft, die in den vergangenen Monaten in mir derart abgenommen hat, dass ich mein Unvermögen erkennen muss, den mir anvertrauten Dienst weiter gut auszuführen.“
Wenn Benedikt XVI. nun, knapp viereinhalb Jahre später, das Bild vom gefährdeten Boot erneut vor großem Publikum aufgreift, lässt das aufhorchen. Die Vermutung liegt nahe, dass er die Lage der Kirche im Jahr 2017 jedenfalls nicht für stabiler hält als in den Jahren 2005 oder 2013.