Es ist ein Buch, das auf viele Leser hoffen darf, aber auch manch heftige Kritik einstecken wird: Die „Streitschrift in 95 Thesen“ mit dem Titel „Ist der Islam noch zu retten?“, gemeinsam verfasst von dem bekannten islamischen Religionspädagogen Mouhanad Khorchide (Universität Münster) und dem streitbaren Politikwissenschaftler und Publizisten Hamed Abdel-Samad.
Wobei gleich vorweggesagt werden muss, dass der dem Luther-Jahr geschuldete Untertitel etwas an den Haaren herbeigezogen ist, da das Buch keine griffigen, kurz gefassten, pointierten, hintereinander aufgelisteten 95 Thesen mit konkreten Forderungen bietet, wie sie seinerzeit Martin Luther verfasst hat und an die Tür der Wittenberger Schlosskirche geheftet haben soll.
Stattdessen handelt es sich um einen Briefwechsel von zwei in der Öffentlichkeit stehenden Muslimen, die in weiten Teilen völlig konträre Positionen vertreten. Das ist spannend, anregend und informativ, weil alle „heißen Eisen“ und strittigen Fragen, die heutzutage in Sachen Islam diskutiert werden, angesprochen und offen diskutiert werden. Mit Luthers Thesen aber hat das wenig gemeinsam, zumal Abdel-Samad grundsätzlich an der Reformierbarkeit des Islam zweifelt.
Die Initiative zu dem Bestseller-tauglichen Buch ging von Khorchide aus: Da eine wirkliche Auseinandersetzung mit Abdel-Samad und seinen auflageträchtigen Büchern nicht stattfindet, wollte der Leiter des Zentrums für islamische Theologie an der Uni Münster mit dem profiliertesten Islam-Kritiker im deutschsprachigen Raum einen sachlichen Diskurs führen; daraus entstand der rege Briefwechsel, der dem Buch zugrunde liegt.
Erstes Streitthema: Der Koran. Auf den ersten Blick sind Abdel-Samad und Khorchide sich einig: Die Botschaften dieses heiligen Buches der Muslime sind so widersprüchlich, dass sie sowohl dem Mörder Argumente bieten, Andersgläubige zu töten und Terrorakte zu verüben, als auch dem moderaten Muslim, sich von solchen Gräueltaten zu distanzieren. Der Koran kann also nach Belieben instrumentalisiert werden.
Für Khorchide ist er kein monologisches Buch im Sinne einer Selbstrede Gottes, kein „vom Himmel gefallenes Werk“, das rein statisch zu verstehen ist, sondern das Ergebnis einer lebendigen, dynamischen Kommunikation zwischen Gott und seiner Gemeinde im siebten Jahrhundert auf der arabischen Halbinsel. Muslime müssen ihn immer wieder neu auslegen, um die Kommunikation mit Gott lebendig zu erhalten.
Birgt das aber nicht die Gefahr in sich, dass der Extremist genauso darin fündig werden kann wie der Friedliebende? Diesem Dilemma versucht Khorchide zu entgehen, indem er den Selbstanspruch der Barmherzigkeit zum wichtigsten Kriterium des Korans erklärt, um ihn vor Beliebigkeit zu schützen.
„IS setzt in die Tat um“
Abdel-Samad hält dem entgegen, dass der Koran sich als letztgültiges Manifest Gottes an die gesamte Menschheit und seine Botschaft als eine direkt von Gott offenbarte versteht, die über die Menschen gekommen ist, um andere Botschaften zu vervollkommnen oder zu tilgen (Sure 3, Vers 19: „Wahrlich, die Religion bei Allah ist der Islam“ und Sure 9, Vers 33: „Er ist es, der seinen Gesandten mit der …Religion der Wahrheit gesandt hat, um ihr die Oberhand über die Religionen zu geben…“). Abdel-Samad klar und eindeutig: „Sure 9 ist ein Manifest des Hasses…Der IS tut nichts anderes, als diese Sure in die Tat umzusetzen!“
Wechselseitig werfen sich die beiden Diskutanten mehrfach im Buch vor, den Koran selektiv zu lesen und ein „Ping-Pong“ mit seinen Versen zu veranstalten. Khorchide unterstellt Abdel-Samad, er lese den Koran genauso ideologisch wie die Salafisten, die auf Gott das Bild eines Tyrannen projizieren, der die Menschen wie Marionetten behandele. Abdel-Samad kontert, Khorchide picke sich die wenigen friedliebenden und für Juden und Christen günstigen Verse heraus und werte sie als Beleg, dass Gott an alle Menschen glaube.
Die vielen Verse, in denen Juden und Christen als Ungläubige beschimpft, Muslime zur Gewalt gegen sie aufgefordert und die Menschen mit Höllenqualen bedroht werden, ignoriere er. Da Mohammed Gott solche Aussagen in den Mund gelegt habe, komme es darauf an, den Koran vom Sockel der göttlichen Unantastbarkeit herunterzuholen.
Khorchide beharrt seinerseits darauf, der Koran wolle nicht alle Belange der Menschheit regeln und auch nicht in erster Linie Gesetze und Verbote vermitteln, sondern Spiritualität und Ethik. Die Grundlage für Gewalt steckt für ihn nicht im Koran selbst, sondern im Exklusivismus der Muslime, die fälschlicherweise davon ausgehen, dass Gottes Gnade und Zuwendung nur ihnen und niemandem sonst zuteilwerden.
Ganz anders Abdel-Samad: Allah ist aus seiner Sicht keineswegs eine neutrale Instanz. „Er ist sehr parteiisch, er kämpft auf der Seite der Anhänger Mohammeds und tötet deren Gegner eigenhändig.“ Allah und Mohammed erscheinen aus seiner Sicht im Koran als eine untrennbare Einheit, und der Glaube an Mohammed als den Propheten und die Befolgung seiner Befehle sind die Voraussetzung für das Heil Gottes.
Welches Gottesbild vertritt der Islam? Auch dieser ebenso heiklen wie grundsätzlichen Frage nehmen die beiden prominenten Muslime sich an. Wobei es nach dem bisher Gesagten nicht überraschen kann, dass der islamische Gott für Abdel-Samad der unbarmherzigste aller Götter ist, während Allah für Khorchide ein liebender Gott ist, der nicht pauschal den Menschen oder Nichtmuslimen droht, sondern den Ungerechten und Unterdrückern.
Der Religionspädagoge geht sogar so weit, zu behaupten, Gott „brauche“ den Menschen, um seine Liebe und Barmherzigkeit auf Erden zu verwirklichen – und entwirft damit ein Gottesbild, das dem des Christentums ganz nahe kommt. Abdel-Samad erwidert, dass es im Koran nicht um Liebe oder Selbstlosigkeit gehe, sondern um Egoismus und Opfer: „Das macht den Unterschied zwischen dem christlichen und dem islamischen Gottesbild aus.“ Dieses „verheerende Gottesbild“ (Originalton Abdel-Samad) aber müsse hinterfragt und kritisiert werden, um eine wirkliche Reform zu erreichen. Seine Position wurzelt in der radikalen Religionskritik eines Ludwig Feuerbach, die die Religion als Erfindung des Menschen und Ausdruck seiner Sehnsüchte betrachtet.
Gewalt hat Tradition
Ist der Islam als solcher also eine Religion des Friedens oder des Terrors? Abdel-Samad hält mit seiner für manche provozierenden Ansicht nicht hinter dem Berg: Mohammed war kriegerisch, und die islamischen Machthaber und Extremisten zu allen Zeiten tun nichts anderes, als seinem Beispiel zu folgen. Der Islam als solcher ist gewalttätig, und der Koran hat den Hass zu einer Tugend und den Krieg zu einem Gottesdienst erhoben („…und nicht ihr habt sie getötet, sondern Allah“, Sure 8, Vers 17).
Da man heute, im 21. Jahrhundert, nichts mehr von Mohammed lernen könne, sei es endlich an der Zeit, ihn „richtig“ zu begraben. Khorchide dagegen will den Propheten selbst „retten“ und nur die „menschenfeindlichen Narrative“ über ihn begraben. Immerhin besteht Übereinstimmung zwischen den beiden Gesprächspartnern darüber, dass Positionen, die Gewalt ansprechen oder sogar klar bejahen und vorschreiben, Teil der islamischen Tradition sind.
Was aber ist von dem heute oft wiederholten Argument zu halten, die Gräueltaten des IS oder Anschläge und Terrorakte wie die von Berlin, Nizza, Brüssel oder Paris hätten nichts mit dem Islam zu tun und die islamistischen Täter seien keine richtigen Muslime? Nichts, zumindest wenn man Abdel-Samad folgt. „Der Islam hat ein Gewaltproblem, solange sich Täter bei einem Anschlag auf Allah und die Religion berufen und den Koran als Legitimation für ihre Taten heranziehen“, stellt der Publizist schonungslos fest.
Eine ernsthafte und ehrliche Auseinandersetzung mit dem Gewaltpotenzial des Islam müsse beim Koran und den Propheten ansetzen, fordert er mit Nachdruck. „Muslimische Terroristen bewegen sich nicht außerhalb der islamischen Tradition, sondern sie schöpfen aus der Mitte dieser Tradition“: eine Äußerung, die von den meisten Politikern und Vertretern der Kirchen in Deutschland als islamophob abgelehnt würde.
Alternative Lesarten
Khorchide bleibt davon unbeeindruckt: Dem Islam Aggression per se zu unterstellen, hält er für fasch. Statt eine radikale Reform in Angriff zu nehmen, müsse man den gläubigen Muslimen „mit viel Respekt und Fingerspitzengefühl“ Wege und alternative Lesarten aufzeigen – und gibt damit indirekt zu, wie allein er selbst da steht. Bleibt die Frage nach dem Begriff Scharia, über den in den letzten Jahren so kontrovers diskutiert wurde wie über keinen anderen.
Khorchide und Abdel-Samad stimmen darin überein, dass sie keine Gesetzessammlung wie das Bürgerliche Gesetzbuch oder das Strafgesetzbuch ist, dass sie von Land zu Land anders gedeutet wird und ein menschliches Konstrukt ist. Doch Abdel-Samad widerspricht entschieden Khorchides Position, man müsse die Scharia mehr im spirituellen und ethischen als im juristischen Sinne verstehen, denn die Muslime in aller Welt seien – so Abdel-Samad – verpflichtet, das islamische Recht mit all seinen Widersprüchen und Bestimmungen kritiklos zu akzeptieren.
Für Khorchide hingegen gibt es ebenso wenig „die“ Scharia, wie es „den“ Koran oder „den“ Islam gibt; auch ist der Islam für ihn keine Gesetzesreligion. Die rechtlichen Regelungen im Koran sind – wie alle anderen Aussagen auch – in ihrem historischen Kontext zu verorten und haben keinen normativen Wert für die Menschen heute.
Was ist also ist in Zukunft zu tun? Wie kann der Weg zu Reformen geebnet werden? Zunächst einmal – und darin stimmen beide überein – durch einen ehrlichen, vorurteilsfreien islamisch-christlichen Dialog, bei dem beide Seiten die Gemeinsamkeiten und Unterschiede offen benennen. Einig sind Khorchide und Abdel-Samad sich auch darin, dass die unselige Tradition, Abweichler oder Kritiker des Islam gleich zu Ungläubigen oder Häretikern zu erklären, ebenso abgeschafft werden muss wie die Angstpädagogik von Imamen, Lehrern, Erziehern und Eltern, die auf Drohungen und Einschüchterung basiert.
„Wir Menschen“
Trotzdem macht Khorchide der deutschen Gesellschaft den Vorwurf, Konflikte wie die um das Kopftuch, Moscheebauten oder Minarette seien „konstruierte Debatten“, die unnötig polarisierten, die Muslime in eine Rechtfertigungsecke drängten und damit indirekt zu Hass, Apologetik und Fundamentalismus beitrügen.
Um eine bessere Integration der Muslime zu gewährleisten, fordert er ein großes „Wir Menschen“ als Identifikationsangebot. Allerdings ruft er auch die Muslime in Deutschland dazu auf, mehr durch Großzügigkeit, Gastfreundschaft, Hilfsbereitschaft, Feinheit oder Empathie aufzufallen. Was den grundsätzlichen Austausch der Argumente angeht, so weist das Buch einige Redundanzen auf.
Wiederholt werfen sich beide gegenseitig vor, selektiv mit den Texten umzugehen und sich die Texte herauszupicken, die zur eigenen Sicht passen. Wo Barmherzigkeit und Liebe ist, da ist für Khorchide Gott, und deshalb müssen Muslime seiner Meinung nach auch – gut christlich – Nächstenliebe üben. Für Abdel-Samad fußt der Islam dagegen auf dem Konzept der Knechtschaft des Menschen gegenüber Gott: Er setzt auf die Unterwerfung des Menschen und die Überlegenheit der eigenen Religion.
Fazit: Je nach Temperament und Einstellung wird der Leser des Buches dem einen oder dem anderen der beiden Diskutanten zuneigen. Mouhanad Khorchide argumentiert fundierter und differenzierter und kennt sich in der Methodik der theologischen Wissenschaft, vor allem der modernen Exegese, sowie bei den verschiedenen Strömungen und Schulen des Islam wesentlich besser aus. Abdel-Samad ist kein Theologe und argumentiert häufig plakativer, griffiger, vielleicht auch platter.
Dafür hat er die heutige Realität in vielen islamischen Staaten und in Deutschland auf seiner Seite und weiß die Positionen des muslimischen Mainstreams klar auf den Begriff zu bringen. Khorchide vertritt auf der anderen Seite einen Islam, der in vielen deutschen Kreisen und speziell in christlichen Gemeinden sehr gut ankommt, momentan unter Muslimen aber (noch?) nicht mehrheitsfähig ist und in weiten Teilen wie eine Vision oder ein Wunschtraum wirkt. Sein Versuch, den Koran, die Person Mohammeds und den Islam insgesamt zu „retten“, ist verständlich und aller Ehren wert, überzeugt aber längst nicht immer.
Irgendwie wird man als Leser den Verdacht nicht los, dass Abdel-Samad mit seiner Einschätzung Khorchides recht haben könnte: „Dein Islam-Bild ist sympathisch, aber nicht authentisch und aus Not und Verlegenheit entstanden, weil wir hier im Westen leben.“ Die Wahrheit über den Islam muss auch nach diesem anregenden Buch jeder selbst herausfinden. Sie liegt sehr wahrscheinlich – wie so oft im Leben – in der Mitte. Starke Zweifel, dass der Islam tatsächlich reformiert werden kann, er also „zu retten“ ist, sind nach der Lektüre dieses potenziellen Bestsellers allerdings angebracht.
Gerd Felder
Info Hamed Abdel-Samad/Mouhanad Khorchide, Ist der Islam noch zu retten? Eine Streitschrift in 95 Thesen. Droemer Verlag, München 2017, 19,99 Euro.