In der Wolfsburg diskutieren Zeitzeugen und Experten über die Bedeutung der 68er in der Katholischen Kirche.
Essen/Mülheim. Die Chiffre „68“ steht für ein Jahrzehnt der Rebellion und der gesellschaftskritischen Proteste – nicht nur in der Bundesrepublik, sondern in ganz Europa und rund um den Globus erhob sich damals eine kritische Jugend, einen kurzen Sommer lang sogar hinter dem Eisernen Vorhang. Bis heute tobt ein Deutungskampf – nicht nur, aber vor allem unter den einstigen Akteuren und Kontrahenten – darum, wie das Erbe „der 68er“ zu beurteilen ist. 50 Jahre danach fragt nun auch die Akademie „Die Wolfsburg“ in der kommenden Woche mit einer zweitägigen Tagung nach den „68ern“ in der Katholischen Kirche: Was bewirkten sie? Was bleibt von ihnen?
Auch innerkirchlich war der Sommer 1968 spannungsreich: Auf die Hoch- und Aufbruchsstimmung des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962-65) folgte die Enzyklika „Humanae vitae“, mit der Papst Paul VI. faktisch die Pille verbot. Die „Königsteiner Erklärung“ der deutschen Bischöfe bot die distanzierte Antwort der deutschen Bischöfe darauf. „Hengsbach, wir kommen, wir sind die linken Frommen“, skandierten „kritische Katholiken“ am Abend des 4. September 1968. Schon bei der Auftaktkundgebung des Essener Katholikentags vor 50 Jahren war klar, dass es munter werden würde. Der gastgebende Ortsbischof Franz Hengsbach reagierte laut Überlieferung auf die Rufe in der Grugahalle mit den Worten: „Wenn Sie nicht nur links sind, sondern wirklich fromm, sind Sie wirklich herzlich willkommen.“
Einsichten und kritische Außenperspektive
Im unruhigen Jahr 1968 geriet das Laientreffen zu einem einzigartigen Moment. Unter dem Motto „mitten in dieser welt“ ging es den Teilnehmern längst nicht nur um Sexualmoral und Demokratie in der Kirche. Sie debattierten heftig und intensiv auch Fragen der Familienpolitik, das Verhältnis der Kirche zum Staat, die Rolle von Bundeswehr und Militärseelsorge, weltweite Gerechtigkeit, die Lage der Arbeitswelt, Bildung und Demokratie. „Vor diesem Hintergrund haben sich viele Gruppen gebildet: der Essener Kreis, der Freckenhorster Kreis. Das war der Startschuss für Reformgruppen von Priestern und Laien. Diese Zeit wollen wir am Freitagabend mit einem großen Zeitzeugengespräch einholen“, sagt Wolfsburg-Dozent Dr. Jens Oboth, der die Tagung vorbereitet hat. Zu Wort kommen hier Edgar Utsch, Sprecher des Essener Kreises und langjähriger Sprecher der Arbeitsgemeinschaft von Priester- und Solidaritätsgruppen (AGP), Dr. Magdalena Bussmann von Wir sind Kirche und Mitbegründerin des Ökumenischen Netzwerks Kirche von unten (IKvu), sowie Dr. Ferdinand Kerstiens, Mitbegründer des Freckenhorster Kreises, der IKvu und der Kirchenvolksbewegung.
Es gehe darum, zu sehen, wie die 68er in der katholischen Kirche operierten, in welchen Feldern sie aktiv waren. „Friedensbewegung, die Gleichberechtigung der Frauen sind da Stichworte, aber auch die Frage, wie politisch darf oder muss der Glaube sein“, erläutert der in Kirchengeschichte promovierte Theologe. Zugleich betont er: „Uns war wichtig, dass wir keine reine 68er-Tagung machen. Natürlich werden Leute kommen, die in dieser Zeit gewirkt haben. Aber wir möchten vor allem die kritische Außenperspektive haben.“ Kein Klassentreffen also.
Der Münchner Politikwissenschaftler Prof. Dr. Werner Weidenfeld wird einen einordnenden Eröffnungsvortrag halten und allgemein danach fragen, ob die 68er-Bewegung „eine politisch-kulturelle Zäsur“ bedeute. Der Münsteraner Zeithistoriker Prof. Dr. Thomas Großbölting spricht über „Aggiornamento und Protest – die Kontestation in der Kirche als das ,andere 1968‘?“ Klar positioniert sich der Publizist Andreas Püttmann am Samstag mit seinem Impulsvortrag „Akzeptanz, Gemeinwohldienste und Versuchungen von Kirche in säkularisierten Gesellschaften. Unheilige und neue Allianzen aus der Sicht eines „Anti-68ers“. Im Anschluss wird er über die 68er und ihre Zukunft in einer „entkirchlichten Gesellschaft – Befürchtungen, Erwartungen, Hoffnungen“ mit Dr. Claudia Lücking-Michel (Vizepräsidentin des Zentralkomitees der deutschen Katholiken), Prof. Dr. Franz-Josef Nocke (Essener Kreis), Christian Weisner (Wir sind Kirche) und dem Essener Generalvikar Klaus Pfeffer diskutieren.
Boris Spernol
Info
Die Katholische Akademie Die Wolfsburg zieht gemeinsam mit der Kirchenvolksbewegung Wir sind Kirche und dem Essener Kreis, einer Reformgruppe von Priestern und Laien im Bistum Essen, eine kritische Bilanz: In der Tagung vom 22. bis 23. Juni 2018 in Mülheim beleuchten zahlreiche Experten und Expertinnen, welchen Einfluss die Proteste und Reformbemühungen in der Kirche, aber auch auf Politik und Gesellschaft hatten. Für die Teilnahme an der Veranstaltung ist eine Anmeldung erforderlich unter www.die-wolfsburg.de/tagungen/18074 oder per E-Mail an akademieanmeldung@bistum-essen.de. Die Teilnahme an der Tagung kostet 89 Euro (ermäßigt 53,40 Euro), die Übernachtung im Einzelzimmer 29 Euro.