Nach Skandalen fordert Franziskus neues Denken in der Kirche

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„Mit Scham und Reue geben wir als Gemeinschaft der Kirche zu, dass wir nicht dort gestanden haben, wo wir eigentlich hätten stehen sollen, und dass wir nicht rechtzeitig gehandelt haben, als wir den Umfang und die Schwere des Schadens erkannten“, heißt es in einem knapp vierseitigen Papstschreiben vom Montag. Gerichtet ist es „an das Volk Gottes“ – also an die gesamte Kirche. Das Thema: sexueller Missbrauch, einmal mehr. Das von Betroffenheit geprägte Schreiben betrifft nicht nur die USA, wo es unlängst wieder mal einen beschämenden Bericht über ein Dreivierteljahrhundert Missbrauch und Vertuschung mit rund 1.000 Opfern gab. Er zielt nicht nur auf Irland, wohin der Papst am Wochenende reist und das sich seit Jahrzehnten mit einer weit verzweigten Missbrauchsgeschichte auseinandersetzt. Er bezieht sich auch nicht nur auf Chile, wo die Missbrauchskrise weiter schwelt und wo Franziskus zunächst falsch reagierte.

Der Papst meint diesmal die ganze Kirche. Zwar hatte Franziskus bereits im April an die chilenischen Bischöfe geschrieben, im Mai dann „an das Volk Gottes in Chile“. An diesen Brief erinnert der jetzige in Art und Ansatz. Benedikt XVI. (2005-2013), der den Kampf gegen den Missbrauch erheblich verschärft hatte, schrieb bereits 2010 einen ähnlichen Brief an die irischen Katholiken. Zur Beendigung der Missbrauchskrise setzte er vor allem auf die Bischöfe. Franziskus ruft nun alle Getauften zum Kampf gegen das Übel auf. In den USA hatten sich Bischöfe als Teil des Problems erwiesen: Ausgerechnet ein Verfasser der vor 15 Jahren lauthals verkündeten „Null-Toleranz-Politik“, der damalige Washingtoner Kardinal Theodore McCarrick (88), wird inzwischen selbst des sexuellen Missbrauchs verdächtigt. Und sein Nachfolger Donald Wuerl (77) steht im Verdacht, einst als Bischof von Pittsburgh in Pennsylvania nicht hart genug gegen Missbrauchstäter vorgegangen zu sein.

Nach dem Bericht aus Pennsylvania und vor dem Papstbesuch in Dublin ist das Kardinalskollegium alarmiert. Der Bostoner Kardinal Sean O’Malley, Präsident der Kinderschutzkommission des Papstes und ein Hardliner bei der Missbrauchsbekämpfung, hat seine Teilnahme am Weltfamilientreffen in Dublin abgesagt. Wenig später folgte die Absage Wuerls. Es droht ein Flächenbrand, den der Papst mit seinem spektakulären Brief eindämmen will. Es reiche nicht mehr, sich zu entschuldigen, predigte am Sonntag Dublins Erzbischof Martin. „Die Katholiken haben ihre Geduld mit uns verloren, und die Gesellschaft hat ihr Vertrauen in uns verloren“, warnte O’Malley in Boston.

In seinem Brief versucht Franziskus nun, die Sache ins Positive zu wenden. Der Schrei der Opfer sei stärker gewesen „als die Maßnahmen all derer, die versucht haben, ihn totzuschweigen“. Das gilt auch ihm selbst. Noch im Januar hatte er Anschuldigungen gegen Priester und Bischöfe in Chile als Denunziation abgetan. Nun aber stellt er sich auf die Seite der Opfer. Den Missbrauch nennt der Papst nicht nur „Sünde“, sondern „Verbrechen“. Und er schreibt: Diese „Wunden verjähren nie“. Dann zitiert er das Lukas-Evangelium: Gott „zerstreut, die im Herzen voll Hochmut sind; er stürzt die Mächtigen vom Thron und erhöht die Niedrigen.“ Damit meint der Papst diesmal Kirchenobere. In einem Kommentar stellt Vatikansprecher Greg Burke klar, dass mit den Vorwürfen wegen Vertuschung in vielen Fällen Bischöfe gemeint seien.

Gegen Klerikalismus hat Franziskus schon oft gewettert; zuletzt bei einem Treffen mit italienischen Jugendlicher, die ihn nach den Ursachen für Kirchenskandale fragten. Klerikalismus beruhe auf einem falschen Verständnis von Autorität – „sehr verbreitet in zahlreichen Gemeinschaften, in denen sich Verhaltensweisen des sexuellen Missbrauchs wie des Macht- und Gewissensmissbrauchs ereignet haben“, schreibt der Papst jetzt.  Das ist gemünzt auch auf Gemeinschaften wie die Legionäre Christi, die sich in einem schmerzlichen Prozess von ihrem sexualpathologischen Gründer Marcial Maciel (1920-2008) lossagen mussten. Oder auf die „Sodalicio“-Gemeinschaft in Peru, die Franziskus im Frühjahr unter eigene Aufsicht stellte.

An der Umkehr und dem Ausweg aus einer solchen Kultur des Klerikalismus, des Wegschauens und Vertuschens muss sich laut Franziskus jeder Christ beteiligen. Sonst werde es keine „gesunde und wirksame Umgestaltung“ geben. An dieser Stelle spricht er viel von Fasten, Buße und Gebet. Manche Kommentatoren vermissen konkrete Maßnahmen. Ein solcher Brief wäre indes kaum der richtige Ort, neue Paragrafen im Kirchenrecht einzuführen oder neue Fortbildungsrichtlinien. Dass all das nötig ist, davon gehen Experten aus. Aber, so warnt der vatikanische Kinderschutzexperte und Psychologe Hans Zollner, Gesetze und Vorschriften allein reichen nicht. Es brauche einen Mentalitätswandel – in der ganzen Kirche. Und deshalb schrieb der Papst diesen Brief.

Als „aufrüttelndes Schreiben“ hat der Trierer Bischof Stephan Ackermann den am Montag veröffentlichten Brief von Papst Franziskus zu sexuellem Missbrauch in der katholischen Kirche gewürdigt. Das knapp vierseitige Dokument rufe auch die deutschen Kirchenvertreter zu „Gewissenserforschung und Reue“ auf, so der Missbrauchsbeauftragte der Deutschen Bischofskonferenz. Ackermann hob den besonderen Charakter des Schreibens hervor. Noch nie in seiner fünfjährigen Amtszeit habe der Papst so deutlich ausgedrückt, „dass der sexuelle Missbrauch durch Priester immer zugleich auch ein Macht- und ein Gewissensmissbrauch ist“.

Es stelle sich gleichwohl die Frage, „warum der Papst dieses Schreiben an das ganze Volk Gottes richtet, wo doch die Schuld und Verantwortung in erster Linie bei den Priestern, den Bischöfen und Ordensoberen liegt“, so Ackermann. „Spricht der Papst nicht allzu leicht in der Wir-Form und nimmt damit diejenigen in der Kirche mit in Haftung, die aufgrund des skandalösen Verhaltens von Priestern selbst eher zu den Leidtragenden gehören?“ Andererseits lasse Franziskus keinen Zweifel daran, „dass er dem Klerus allein nicht die notwendige Kraft zur Erneuerung zutraut“. Vielmehr setze er dabei auf die Hilfe des ganzen Gottesvolkes.

Ackermann kündigte an, dass die deutschen Bischöfe auf ihrer bevorstehenden Herbstvollversammlung in Fulda Ergebnisse eines Forschungsprojektes vorstellen wollen. Die Studie, an der sich alle 27 deutschen Bistümer beteiligten, trägt den Titel „Sexueller Missbrauch an Minderjährigen durch katholische Priester, Diakone und männliche Ordensangehörige im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz“.

kna/rwm