Am Sonntag rufen die katholischen Bischöfe in Deutschland erstmals zu einem Gedenktag für Opfer sexuellen Missbrauchs auf. Anlass für eine Bestandsaufnahme: Wie ist der Stand der Aufarbeitung, nachdem die Bischöfe Ende September die Missbrauchsstudie vorgestellt und einen 7-Punkte-Plan gegen Missbrauch verabschiedet haben?
Wozu haben sich die Bischöfe in dem Plan verpflichtet?
Sie wollen Betroffene und externe Fachleute stärker in die Aufarbeitung einbeziehen. Außerdem wollen sie klären, wer über die Täter hinaus institutionell Verantwortung getragen hat, etwa für Vertuschung oder die Versetzung von Tätern. Ferner wollen sie einen „transparenten Gesprächsprozess“ über den Zölibat und die Sexualmoral der Kirche. Zudem soll die Zahlung von Anerkennungsleistungen an Opfer überprüft und weiterentwickelt werden. Darüber hinaus wollen die Bischöfe die Führung der Personalakten vereinheitlichen und ein „verbindliches überdiözesanes Monitoring“ einführen; es soll regelmäßig offenlegen, was jedes Bistum unternimmt in Sachen Prävention und Missbrauchsbekämpfung.
Was soll der Gedenktag bringen?
Der Tag ist im Umfeld des vom Europarat initiierten Europäischen Tages zum Schutz von Kindern vor sexueller Ausbeutung angesiedelt. Er sei „ein Mittel, dass das Thema nicht wieder wegrutscht“, sagte der Missbrauchsbeauftragte der Bischofskonferenz, Bischof Stephan Ackermann, bei domradio.de. Man wolle Solidarität mit den Opfern zum Ausdruck bringen und die Sensibilität für das Thema wachhalten. Die Pfarreien sollen das Thema vor Ort aufgreifen.
Wie steht es um die oft geforderte Benennung von Verantwortlichen?
Für Aufsehen hat hier vor allem der Freiburger Erzbischof Stephan Burger gesorgt. Er sieht bei seinem Amtsvorgänger Robert Zollitsch, der auch Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz war, Fehler im Umgang mit Missbrauchstaten durch Priester. Betroffene hofften darauf, dass sich Zollitsch zu seiner Rolle bekenne und öffentlich äußere, so Burger. Zudem seien in der Vergangenheit Personalakten mutmaßlicher Täter manipuliert worden.
In Hildesheim hat Bischof Heiner Wilmer Vorwürfe gegen zwei verstorbene Vorgänger deutlich benannt: Bischof Josef Homeyer (1983 – 2004) warf er Vertuschung und Versagen vor. Gegen dessen Amtsvorgänger Heinrich Maria Janssen (1957 – 1982) gibt es Vorwürfe, er habe selbst Minderjährige missbraucht. Zugleich kündigte Wilmer an, externe Fachleute mit der Untersuchung zu beauftragen.
Gibt es juristische Schritte zur Aufarbeitung der Taten?
Eine Gruppe von Strafrechtsprofessoren hat Anzeige gegen Unbekannt bei Staatsanwaltschaften im Bereich aller 27 deutschen Bistümer eingereicht. Diese prüfen, ob es einen konkreten Anfangsverdacht für verfolgbare strafbare Handlungen gibt. Doch die Auswertung der Missbrauchsstudie ist hier schwierig, denn die Angaben sind anonymisiert und ein Großteil der Taten ist verjährt. Das Forschungsprojekt hatte ausdrücklich „keinen juristischen oder kriminalistischen“ Ansatz verfolgt.
Bischof Ackermann hat zudem angekündigt, Kirchenarchive zur weiteren Untersuchung von Missbrauchsfällen für unabhängige Fachleute zu öffnen. Die Aufarbeitung könne „keine interne Sache mehr sein“, sagte er dem „Spiegel“. „Unabhängig heißt für mich, dass der jeweilige Bischof die weitere Untersuchung aus der Hand gibt und alles zur Verfügung stellt, was dafür nötig ist.“
Was sagen Politik und Justiz?
Mehrere Ministerinnen sowie Juristen, Opferverbände und der Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Johannes-Wilhelm Rörig, fordern die Kirche auf, ihre Archive und Aktenbestände zu öffnen. Sie sollten stärker als bisher mit der Justiz und staatlichen Stellen zusammenarbeiten. Bischof Ackermann und viele Bistümer haben „volle Kooperationsbereitschaft“ zugesagt. Doch auch hier gibt es rechtliche Hürden, etwa in Sachen Datenschutz – genau wie in Schulen, Sportvereinen und anderen Institutionen. In einigen Regionen wie im Saarland existieren staatliche Anlaufstellen für Opfer, die sich nicht an die Kirche wenden wollen. Zudem laufen Gespräche zwischen Rörig, Politik- und Kirchenvertretern darüber, wie eine staatliche Beteiligung an der Aufarbeitung konkret aussehen könnte.
Wie weit ist die Debatte über Zölibat, Sexualmoral und andere institutionelle Elemente?
Einige Bischöfe wie etwa Franz-Josef Overbeck aus Essen fordern deutliche Veränderungen in der Kirche, um die „Vertrauenskrise extremsten Ausmaßes“ zu überwinden: Fragen zur Sicht der Kirche auf Homosexualität, Zölibat, Machtmissbrauch und die Rolle der Frau müssten neu gestellt und beantwortet werden. Der Hamburger Erzbischof Stefan Heße spricht sich für einen offeneren Umgang mit dem Thema Sexualität aus. Insbesondere müsse die Homosexualität theologisch neu eingeordnet werden. Der Mainzer Bischof Peter Kohlgraf plädiert für Änderungen im kirchlichen Strafrecht.
Auch bei der Jugendsynode in Rom war Missbrauch ein wichtiges Thema, wofür sich insbesondere die deutschen Teilnehmer stark gemacht hatten. Münsters Bischof Felix Genn lenkte das Augenmerk auch auf geistlichen Missbrauch, während Kardinal Reinhard Marx darüber hinaus eine stärkere Beteiligung von Frauen in der Kirche forderte.
Wie sieht es in anderen Teilen der Welt aus?
Auch in anderen Ländern sorgen Missbrauchsskandale für Schlagzeilen, etwa in Irland, Chile, Australien und den USA. Insgesamt aber spielt das Thema in weiten Teilen der Weltkirche bisher keine dominierende Rolle.
Was sagt der Vatikan zum Umgang der Kirche in Deutschland mit dem Thema Missbrauch?
Kardinal Marx hat Papst Franziskus über die Studie und den Plan der Bischöfe informiert. Bisher gab es aus Rom keine öffentlichen Reaktionen darauf – anders als etwa in den USA: Vor der Vollversammlung der dortigen Bischofskonferenz hatte der Vatikan interveniert und einen nationalen Alleingang gestoppt. Vor eigenen Beschlüssen solle man das für Februar geplante Welttreffen der Bischöfe im Vatikan zum Thema Missbrauch abwarten. Institutionelle Veränderungen sind ohnehin in der Regel nicht auf Länderebene möglich.
Wie geht es weiter?
Am Montag und Dienstag treffen sich die deutschen Diözesanbischöfe zu ihrem Ständigen Rat. Hier will Ackermann eine Struktur für die konkrete Umsetzung des Plans vorlegen. Am kommenden Freitag treffen sich führende Experten aus Kirche und Gesellschaft in Köln zu einer Fachtagung mit dem Schwerpunkt Prävention. Und im Februar folgt das von Papst Franziskus anberaumte Welttreffen der Vorsitzenden der Bischofskonferenzen.
Und was macht die evangelische Kirche?
Die Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) hat in dieser Woche ein Elf-Punkte-Programm gegen Missbrauch beschlossen. Unter anderem sollen Betroffene beteiligt werden. Alle Landeskirchen müssen auf unabhängige Kommissionen zurückgreifen können, die unter anderem Anerkennungsleistungen für die Betroffenen erarbeiten. Beschlossen wurden zudem eine zentrale Anlaufstelle, eine Studie zur Dunkelfeldanalyse der sexualisierten Gewalt sowie eine „externe wissenschaftliche Gesamtstudie, die die systemisch bedingten Risikofaktoren speziell der evangelischen Kirche analysiert“.