Große Unterschiede in der Einschätzung auch kulturell bedingt

Aus fast allen Ländern kommen Ende Februar die obersten Führer der katholischen Kirche in Rom zusammen. Der Papst will mit ihnen den Schutz von Minderjährigen gegen sexuellen Missbrauch in der Kirche endlich durchsetzen.

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Wer in einem katholischen Bistum in den USA oder Kanada sexuelle Übergriffe durch kirchliche Mitarbeiter auf Minderjährige per Internet melden will, braucht dafür nur wenige Clicks. In fast jedem Bistum stehen Begriffe wie „Kinderschutz“ oben oder unten auf der Homepage. Ein Click auf das Schlüsselwort öffnet eine Seite, die dann die Anzeige eines Missbrauchsfalls an staatliche oder an kirchliche Stellen (oder an beide) ermöglicht. Daneben informieren Bistümer und Gemeinden umfassend über alle Aspekte sexueller Gewalt, über Präventions-Maßnahmen und Strafnormen und über die Namen kirchlicher sowie unabhängiger Beraterinnen und Berater.

Leidvolle Erfahrungen

Dass die nordamerikanischen Ortskirchen heute vorbildlich mit dem Thema Missbrauch umgehen, hat mit leidvollen Erfahrungen aus den letzten drei Jahrzehnten zu tun. Investigative Journalisten hatten in den 1990er und Anfang der 2000er Jahre in den katholischen Milieus in Quebec und Boston den Schleier des Schweigens durchbrochen und Hunderte Fälle sexuellen Missbrauchs ans Licht gebracht. Der Skandal im Erzbistum Boston wurde 2002 zum Fanal: Erstmals musste mit Kardinal Bernard Law einer der mächtigsten Erzbischöfe der Weltkirche zurücktreten, als nachgewiesen wurde, dass er John Geoghan, einen der schlimmsten Kinderschänder im Priestergewand, mehrfach versetzt hatte, statt ihn aus dem Verkehr zu ziehen.

Das Grauen der Enthüllungen von 2002 führte dazu, dass die US-Bischofskonferenz eine Führungsrolle bei der Verfolgung und bei der Vorbeugung von sexuellem Missbrauch übernahm. Je mehr Bischöfe sich dem Problem stellten, desto klarer erkannten sie, dass es weit mehr gab als nur Einzelfälle. Das Wort von den „systemischen“ Gründen machte die Runde. Die „Kultur des Schweigens“ müsse durchbrochen werden.

In Deutschland sprach der Bischofskonferenz-Vorsitzende Karl Lehmann damals noch von einem amerikanischen Phänomen, in Deutschland gebe es nur einzelne Fälle. Doch unter seinem Nachfolger Robert Zollitsch trat 2010 zuerst in Berlin und dann an vielen anderen Stellen zutage, dass das Vertuschen und Versetzen auch in Deutschland über Jahrzehnte funktionierte – zum Schutz der Täter und zum Schaden vieler Opfer. Das ganze Ausmaß kam erst 2018 ans Tageslicht, als eine wissenschaftliche Studie mehr als 3.677 mutmaßliche Missbrauchsfälle aus einem Zeitraum von rund 100 Jahren beleuchtete.

Vorne bei der Prävention

Dass die meisten deutschen Bistümer bereits seit einigen Jahren konsequent gegen Missbrauch vorbeugen und die seither drastisch zurückgegangenen Fälle konsequent verfolgen, hat ihnen unlängst der Präsident des Kinderschutzzentrums an der Päpstlichen Universität Gregoriana, Professor Hans Zollner, in einem Interview bescheinigt. Die Kirche in Deutschland gehöre inzwischen mit Ländern wie USA, Australien und Irland zur Spitzengruppe weltweit, was die Prävention betrifft.

Dass es dazu kam, hat mit hartnäckigen Medien, aber auch mit Geld zu tun. Die meisten Bistümer in Deutschland verfügen im weltweiten Vergleich über enorme Einkünfte und können sich Personalstellen für Präventionsbeauftragte und kostspielige Schulungen aller Mitarbeiter leisten. Hinzu kommt eine andere Mentalität in der Öffentlichkeit, die Geistlichen nicht mehr mit Ehrfurcht begegnet und mutmaßliche Täter in Schwarz nicht mehr mit dem Mantel des Schweigens schützt.

In anderen Ländern Europas sieht das noch ganz anders aus. Auch hier ist ein Blick ins Internet aufschlussreich. Ob Spanien, Portugal, Italien oder Polen – auf den Internetseiten großer Bistümer sucht man vergeblich nach dem Stichwort „Kinderschutz“ oder „Missbrauch“. Und selbst in einem fortschrittlichen Großstadtbistum wie Mailand sind Querverbindungen zu Texten des Papstes zu diesem Thema das einzige, was sich auf Anhieb finden lässt. Immerhin gibt es seit 2012 Leitlinien der Italienischen Bischofskonferenz zum Vergehen gegen sexuellen Missbrauch und erst seit zwei Wochen eine landesweite kirchliche Fachstelle für Kinderschutz.

Dichtes Netz von Vertuschung

In Lateinamerika sieht es nicht viel besser aus. Zwar hat es in Chile in den vergangenen zwei Jahren einen dramatischen Weckruf gegeben, nachdem ein dichtes Netz von Missbrauch und Vertuschung rund um den inzwischen aus dem Priesteramt entfernten Fernando Karadima aufgeflogen war. Fast die gesamte Bischofskonferenz bot ihren Rücktritt an, in acht Fällen nahm der Papst das Gesuch an.

Doch insgesamt scheint das Thema in Lateinamerika noch nicht in der nötigen Breite angekommen zu sein. Von Kolumbien bis Argentinien gibt es gelegentlich Berichte über Einzelfälle, mehr nicht. Nochmals anders stellt sich die Situation in einigen asiatischen Ländern wie Thailand oder den Philippinen dar, wo Sex mit Minderjährigen im 20. Jahrhundert legal war. In Afrika wiederum spielen kulturell andere Vorstellungen von sexueller Reife und Volljährigkeit eine Rolle.

Große Erwartungen

Für die Weltkirche und an ihrer Spitze für Papst Franziskus sind diese kulturellen, juristischen und kirchenpolitischen Unterschiede ein echtes Problem. Den weltweiten „Kinderschutz-Gipfel“ aller Bischofkonferenz-Vorsitzenden hat er im vergangenen November einberufen. Seither gibt es im Wechsel große Erwartungen – und Warnungen davor, dass diese viel zu hoch seien.

Während die Bischöfe in deb USA am liebsten schon eigene Laien-Kommissionen einsetzen würden, um über jene Amtsbrüder zu richten, die bei der Umsetzung der Richtlinien gegen Missbrauch zu lax waren, müssen in anderen Ländern überhaupt erst einmal Richtlinien erlassen werden, die dem Problem halbwegs gerecht werden. Wenn es dem Papst unter diesen Voraussetzungen gelingt, alle Bischofskonferenzen wenigstens auf ein gemeinsames Level beim Problembewusstsein zu bringen, dann hätte er schon viel erreicht.

Ludwig Ring-Eifel (kna)