Nikolaus Schneider: „Das Problem der Kirche ist kein Marketingproblem“

„Von der kleiner werdenden Kirche sollten wir uns nicht verrückt machen lassen“, findet der ehemalige EKD-Ratsvorsitzende Schneider.

Der Deutsche Evangelische Kirchentag im Juni in Dortmund gab sich die Losung „Was für ein Vertrauen“. Ein Vers, der die gegenwärtige Stimmung unter den Christen auf den Punkt bringt; zwischen dynamisch und fragwürdig. Die einen präsentieren sich zupackend und streitbar, demonstrieren für Klimaschutz und gegen Populismus, die anderen beklagen den schleichenden Bedeutungsverlust ihrer Kirche. Der erhoffte, institutionelle Zuspruch durch das Reformationsjubiläum 2017 blieb aus. Obwohl das öffentliche Bewusstsein seitdem mehr mit Martin Luther anfangen kann, viele Bücher und Filme die Reformation differenziert darstellten, ist die Mitgliederzahl in den Gemeinden weiter rückläufig. Nikolaus Schneider und seine Frau Anne kamen als Vortragende nach Dortmund, um die Gemeinschaft anzuspornen: Zu mehr Streitkultur und weniger Bindungsangst.

(Foto: Kasischke)

„Von der kleiner werdenden Kirche sollten wir uns nicht verrückt machen lassen“, findet der ehemalige EKD-Ratsvorsitzende Schneider vor der Kulisse seiner Herkunftsheimat. Nikolaus Schneider stammt aus dem Ruhrgebiet, war dort erst Gemeindepfarrer, dann Landesbischof. Strukturwandel hat er auf mehreren Ebenen miterlebt – und bewältigt. Er sagt: „Das Problem der Kirche ist kein Marketingproblem. Wir müssen uns stattdessen stärker bewusst werden, was unsere Gemeinsamkeiten sind.“ Dazu gehöre selbstverständlich, die eigenen Strukturen auf den Prüfstand zu stellen und theologische Positionen neu zu verhandeln. „Debatten werden die Stärken einer Großkirche nicht zerstören, sie machen sie lebensfähig.“

„Theologisches Denken und Kirche sind dialektisch.

Gerade die Reformation habe gezeigt: „Theologisches Denken und Kirche sind dialektisch.“ Martin Luther machte die persönliche Gottesbeziehung jedes Christen zum Maßstab, die Kirche fungierte als Gemeinschaft und Multiplikator und musste aushalten können, dass es mehr als eine Wahrheit gab. Der Streit genau darüber, den Luther im Sommer 1519 mit Johannes Eck in Leipzig ausfocht, endete – historisch betrachtet – unentschieden: Beide Seiten schöpften Kraft daraus. Während sich Eck gleichwohl zum Sieger der Leipziger Disputation küren ließ, reiste Luther zurück nach Wittenberg und setzte sich an seine Programmschriften. Ins Heute übersetzt: Erstens, er ging daran, Strukturen zu prüfen, die auf dem gemeinsamen Nenner der Freiheit in der Gottesbeziehung aufbauten. Zweitens, sie dem gesellschaftlichen Ist-Zustand anzupassen, der nach Austausch verlangte.

„Eine Institution wird in dem Maße anders, wie ihre Menschen anders werden“, fasst Nikolaus Schneider zusammen. Seine Frau Anne, ebenfalls Theologin und Lehrerin, nimmt indes genau dort die Reformations-Trägheit der Kirchen wahr: „Das Reformationsjahr 2017 gab keinen Anlass für institutionelle Veränderungen in der Kirche, weil sich niemand damit befasste.“ Sie kommt auf das zähe Verhandeln der Kirchen in der gemeinsamen Abendmahlsfrage zu sprechen: „Ökumene findet statt. In den Gemeinden, zwischen Menschen. Aber nicht in der Kirche.“ Dieselbe Notwendigkeit sich auseinanderzusetzen, sieht sie bei der Neuverteilung der Verantwortung innerhalb der katholischen Kirche. „Maria 2.0 ist Teil eines neuen Selbstverständnisses.“

„Aufbruch bislang nicht gefolgt“

Vielleicht sei es durch das Reformationsjubiläum inspiriert worden. Ein Aufbruch sei dem bislang aber nicht gefolgt. Wie der zustande kommen könnte, hat Anne Schneider auch bedacht: „Zeitgemäßer darüber nachdenken, wie sich Gemeinden einbringen.“ Entscheidungsspielräume neu vermessen, zum Beispiel von unten nach oben. Vielleicht setzt das auch einen Impuls in der Ökumene.

Das Problem der Kirchen – ein Teilhabeproblem? Nikolaus Schneider ist skeptisch: „Bei aller Individualisierung brauchen wir ein Mindestmaß an Konsens.“ Die Reformation dürfe ihre Kinder nicht fressen. „Auch spalterische Tendenzen nehmen in dem Maße zu, wie die Menschen selbstbewusster werden. Ziel muss sein, eine möglichst belastbare Basis an Gemeinsamkeit zu bewahren.“ Er fühlt sich an den Beschluss der rheinischen Landeskirche über die Gleichberechtigung Homosexueller erinnert, ein Prozess, der rund zehn Jahre in Anspruch nahm. „Es wurden alle einbezogen und klar bestimmt, in welchen Punkten wir zusammenbleiben.“ Die Zahl der „Diskursunfähigen“, wie er sie nennt, sei am Ende auf eine Handvoll geschrumpft. Aus Debatte wurde Dialog.

Das Problem der Kirchen – ein Bindungsproblem? Die Herausforderung sinkender Mitgliederzahlen bekommen nicht nur Katholiken und Protestanten zu spüren. Sie kennzeichnet auch politische und soziale Formen der Gemeinschaft: Parteien, Vereine, Gewerkschaften. Engagiert und interessiert sind die Menschen nach wie vor, nur bindungsunfähiger geworden. Festgelegt sein und trotzdem frei, die jahrhundertelange Basis des evangelischen Bekenntnisses liest sich heutzutage fast widersprüchlich.

Der Preis für Luthers Beharren auf der persönlichen Gottesbeziehung jedes Christen ist derselbe, den Demokraten für ihre Staatsform zu zahlen bereit sind. 2019 müsse Demokratie Kirche inspirieren, fordert das Ehepaar Schneider. „Die Verantwortung liegt beim Menschen: Welches Maß an Bindung bin ich bereit, einzugehen?“, empfiehlt Anne Schneider. Gemeinschaft sei nicht nur Lernort der Debattenkultur, sie nehme auch den Druck von jedem und jeder, sich ständig neu erfinden zu müssen.

„Auch Gottes Geist ist nicht eindeutig in Dogmen und institutionelle Struktur zu übersetzen, sondern ermutigt uns, über Gottes Wahrheit und unsere Wahrheiten zu streiten“, so Anne Schneider weiter. „In jedem Bündnis wird deutlich, dass es nicht nur eine Meinung gibt, und stabile Freundschaften, Partnerschaften oder Familien halten das aus“, bekräftigt ihr Mann. Hinter dem Bibelvers „Was für ein Vertrauen“ kann so gesehen beides stehen, ein Frage- oder ein Ausrufezeichen.

Tanja Kasischke

INFO

Anne und Nikolaus Schneider diskutieren ihre „Vision einer lebendigen, kräftigen und streitbaren Kirche beim 1. Forum Reformation am Montag, 19. August 2019 in Lutherstadt Wittenberg. Beginn: 9.30 Uhr. Ihrem Vortrag im Stadthaus der Lutherstadt, Mauerstr. 18, schließt sich am Nachmittag ein Workshop an, bei dem die unterschiedlichen Positionen des Themas Sterbehilfe betrachtet werden, auch von Schneiders selbst. Die Veranstaltung ist Teil des fünftägigen Forums Reformation „Streitbar leben von 18. bis 22. August. Tagestickets zum Preis von 19 Euro, ermäßigt 13 Euro, sind an der Tageskasse im Stadthaus erhältlich. Mehr auf www.forumreformation.de/wittenberg-2019