Missbrauchsfälle bringen Kirchenobere in Erklärungsnot

Ein Missbrauchsfall bringt Gemeinden in Aufruhr und Bischöfe in Erklärungsnot: Trotz Verurteilungen konnte ein Priester in drei Bistümern als Seelsorger arbeiten.

Bischof Genn (Foto: Bistum Münster)

Das Kirchenvolk schäumt. Wie kann ein Priester, der zweimal wegen Missbrauchs verurteilt wurde, in drei Bistümern über Jahrzehnte als Seelsorger arbeiten? Der Fall des inzwischen 86-jährigen Geistlichen löst an der Kirchenbasis blankes Entsetzen aus. Generalvikare und Bischöfe reisen in betroffene Gemeinden, um das Unerklärliche zu erklären. Münsters Oberhirte Felix Genn wählte am Freitag zudem die ungewöhnliche Form eines offenen Briefes, um Systemfehler zu benennen und eigene Fehler einzugestehen.

Der Fall war Mitte November bekannt geworden. Der Geistliche aus dem Erzbistum Köln war 1972 wegen „fortgesetzter Unzucht mit Kindern und Abhängigen“ zu einer Haftstrafe verurteilt worden. Bereits ein Jahr später konnte er wieder in der Seelsorge tätig werden – im Bistum Münster. Dort wurde er wieder auffällig und erhielt 1988 eine Bewährungsstrafe. Daraufhin setzte ihn sein Heimatbistum in einem Kölner Altenheim ein. Im Ruhestand konnte er von 2002 bis 2015 ungehindert in der Pfarrseelsorge in Bochum-Wattenscheid mitarbeiten.

Der Fall sorgt auch in Westerkappeln für Unruhe, eine der rund zehn Seelsorgestationen in der Laufbahn des Priesters. Bei einem Informationsabend am Donnerstagabend stellt sich der Münsteraner Generalvikar Klaus Winterkamp bohrenden Fragen. „Ich kann auch nur kopfschüttelnd davorstehen“, sagte er laut Portal kirche-und-leben.de. Die Entscheidung des damaligen Bischofs Heinrich Tenhumberg (1915-1979) und seines Personalreferenten, den zuvor inhaftierten Priester ins Bistum Münster zu holen, sei „vollkommen verantwortungslos“ gewesen. Die beiden hätten von der Vorgeschichte gewusst; ihr Verhalten sei nicht zu erklären.

Bohrenden Fragen sieht sich auch Essens Generalvikar Klaus Pfeffer ausgesetzt, der sich am Donnerstag mit den Gremien der Pfarrei Sankt Gertrud in Bochum-Wattenscheid trifft. Dabei bittet er um Entschuldigung dafür, dass die Menschen in der betroffenen Gemeinde Sankt Joseph jahrelang von der Vergangenheit des Priesters nichts wussten. Der sei als 65-Jähriger auf eigenen Wunsch in den Ruhestand nach Bochum gewechselt.

Nachdem Gemeindemitglieder das Ruhrbistum über die Verurteilungen berichtet hatten, bestätigte das erst daraufhin eingeschaltete Erzbistum Köln die Vorgeschichte. Eine psychologische Beurteilung durch den langjährigen Therapeuten des Geistlichen ergab, dass von ihm keine Gefahr mehr ausgehe. Der Seelsorgeeinsatz sei aus heutiger Perspektive aber „ein verheerender Fehler“ gewesen, so Pfeffer. Zugleich zeigt er sich besorgt: Hoffentlich ist es zu keinem weiteren Missbrauch gekommen.

Im Gegensatz zu Winterkamp nennt Pfeffer keine Namen der damals Verantwortlichen. Die Sache war kompliziert: Der Wechsel ins Bistum Essen geschah, nachdem Ruhrbischof Hubert Luthe 2002 in den Ruhestand getreten war und der damalige Weihbischof Franz Grave und als sein Stellvertreter der langjährige Generalvikar Dieter Schümmelfeder übergangsweise die Diözese leiteten. Luthes Nachfolger Felix Genn, der von 2003 bis 2009 dem Bistum vorstand und dann nach Münster wechselte, bekennt sich in dem Fall zu seiner grundsätzlichen Verantwortung als Bischof. Zugleich betont er aber, erst Anfang Mai 2019 davon erfahren zu haben. Dem Essener „Apparat“ von damals hält er vor, ihn nicht informiert zu haben. „Ich bin verärgert darüber“, so Genn.

In einem anderen Fall, von dem das Bistum 2010 erfuhr, räumt Genn persönliche Fehler ein. Ein in den 1980er Jahren in Kevelaer tätiger Kaplan missbrauchte über einen längeren Zeitraum in der Beichte ein Mädchen. Genn entschuldigte sich dafür, dass er dem später nach Wadersloh-Bad Waldliesborn gewechselten Geistlichen nicht deutlich genug untersagt habe, öffentlich Gottesdienste zu feiern. Zudem hätte er die Verantwortlichen in der Pfarrei umfassend informieren müssen.

Ob solche Entschuldigungen angenommen werden? Genn wird es erfahren, wenn er nächste Woche die Pfarrei in Wadersloh besucht. Ruhrbischof Franz-Josef Overbeck wird am Sonntag in Bochum-Wattenscheid erwartet.

Andreas Otto (kna)

Offener Brief

Liebe Katholikinnen und Katholiken im Bistum Münster,

ich wende mich als Bischof in einem Offenen Brief an Sie, weil es mir ein Anliegen ist, auf diesem Weg möglichst viele von Ihnen zu erreichen. Es geht um das Thema des sexuellen Missbrauchs in unserer Kirche und in unserem Bistum. Sehr konkret geht es um die Frage meiner Rolle, meiner persönlichen Verantwortung und meines Verständnisses vom Umgang mit sexuellem Missbrauch.

Wenn Sie die Medien in den vergangenen Wochen und Monaten verfolgt haben, verging nahezu kaum ein Tag, an dem nicht über sexuellen Missbrauch im Bistum Münster berichtet wurde. Auch wenn vieles an dieser Berichterstattung schmerzhaft ist, so ist sie letztlich ein wichtiges Zeichen. Denn die Berichterstattung zeigt: Vieles kommt deshalb jetzt ans Licht, weil Betroffene uns und mich offen mit unserer Verantwortung konfrontieren, weil wir uns diesem Thema bewusster stellen, die Vergangenheit extern und unabhängig aufarbeiten lassen und Kritik annehmen. Und vor allem: Wir bemühen uns immer wieder neu, die Interessen der Betroffenen in den Mittelpunkt unseres Tuns zu stellen. Diese Haltung und die damit verbundene Transparenz sind für mich zwingend notwendig.

Selbstverständlich kann und darf diese Transparenz auch vor meiner eigenen Person nicht Halt machen. Im Blick auf zwei konkrete Sachverhalte der letzten Zeit wurde ich persönlich sowohl in der Öffentlichkeit als auch direkt kritisiert. Deshalb möchte ich mich nachfolgend dazu äußern.

Seien Sie zunächst versichert: Ich weiß um den gewaltigen Schmerz, den viele von Missbrauch betroffene Frauen und Männer oft seit Jahrzehnten Tag für Tag spüren und der sie zermürbt. Gerade das Wissen um diese Frauen und Männer bewegt mich, Ihnen als Bischof und Verantwortungsträger Auskunft zu geben.

Der erste Sachverhalt ist der eines Priesters des Erzbistums Köln, der in den 1970er und 1980er Jahren mehrfach verurteilt wurde – unter anderem wegen sexueller Handlungen an Minderjährigen – und der dennoch über Jahrzehnte weiter als Priester im Erzbistum Köln sowie in unserem Bistum und im Bistum Essen wirkte. Die Aufarbeitung hat das Erzbistum Köln an eine unabhängige Kanzlei abgegeben. Seit 2002 lebt dieser Priester als Ruhestandsgeistlicher im Bistum Essen. Wie vielen von Ihnen bekannt sein wird, war ich von 2003 bis zu meinem Wechsel 2009 ins Bistum Münster Bischof von Essen. Mir ist bewusst, dass ich als Bischof  letztlich für das verantwortlich bin, was im Bistum geschieht. Dass damals ein Priester in einer Gemeinde seelsorgliche Dienste tun konnte, obwohl bekannt war, dass er mehrfach wegen sexuellen Missbrauchs verurteilt worden war, war ein verheerender Fehler. Mich erschreckt im Rückblick die damals fehlende Einsicht, dass ein Priester grundsätzlich nicht mehr seelsorglich eingesetzt werden darf, wenn er sich solcher Verbrechen schuldig gemacht hat. Heute frage ich mich deshalb: Warum habe ich diesen Fall in all den Jahren in Essen nicht wahrgenommen? Welche Schwächen und Fehler gibt es in unserem ‚System‘, dass ein Bischof nicht weiß, wenn ein Priester mit einer solchen Vorgeschichte in einer Gemeinde tätig ist? Haben wir diese systemischen Schwächen heute wirklich beseitigt? Und zentral ist natürlich die Frage, wie es überhaupt sein konnte, dass ein Priester, der mehrfach verurteilt wurde, von Bistum zu Bistum versetzt wurde? Auf diese Fragen habe ich keine einfachen Antworten. Ich weiß nur, dass ich als Bischof von Essen damals Verantwortung trug und deshalb alle um Entschuldigung bitte, die sich jetzt hintergangen oder betrogen fühlen. Insbesondere gilt diese Bitte ausdrücklich denen, die der Priester missbraucht hat und die nicht verstehen können, dass er weiter als Priester tätig sein durfte.

Anfang Mai dieses Jahres habe ich von dem Fall erfahren. Ich bekam einen Brief, den ich sofort an unseren Interventionsbeauftragten weitergeleitet habe. Er hat daraufhin umgehend das Erzbistum Köln eingeschaltet. Vor allem die Betroffenen sexuellen Missbrauchs möchten für diesen Fall wissen, wer welche Verantwortung trug. Diese Antworten müssen wir geben. Das gilt für alle Fälle sexuellen Missbrauchs. Daher haben wir im Bistum Münster die Universität Münster beauftragt, in völliger Unabhängigkeit Antworten auf diese Fragen zu suchen und die Vergangenheit aufzuarbeiten.

Der zweite Sachverhalt ist der eines Priesters unseres Bistums. In Kevelaer wurde vor kurzem der Brief einer Betroffenen auf ihren Wunsch hin in verschiedenen Gottesdiensten verlesen. In dem Brief berichtet die Frau davon, dass sie Mitte der 1980er Jahre von einem damals dort tätigen Kaplan über einen längeren Zeitraum sexuell missbraucht wurde. Die Frau hatte sich bereits im Jahr 2010 ans Bistum gewandt. Seitdem ist mir dieser Fall bekannt. Sie verlangte damals ausdrücklich, dass der Sachverhalt nicht öffentlich gemacht wird und auch, dass die Staatsanwaltschaft nicht eingeschaltet werden darf. Ein solches Anliegen ist völlig berechtigt, wenn es von Betroffenen geäußert wird. Entsprechend unserem oben genannten Grundsatz, die Interessen der Betroffenen jederzeit in den Mittelpunkt zu stellen, haben wir uns daher an den Wünschen der Betroffenen orientiert. Wir haben den Sachverhalt nach Rom an die Glaubenskongregation gemeldet. Nach Abschluss der dortigen Prüfungen wurde der Geistliche emeritiert. In einem Dekret wurden ihm seelsorgliche und priesterliche Tätigkeiten nur in einem vom Bistum zugewiesenen Bereich gestattet.

Die Betroffene hat sich dann Ende 2016/Anfang 2017 erneut bei uns gemeldet, weil der Geistliche weiterhin öffentlich Gottesdienste feierte. Ich habe ihn dann schriftlich darauf hingewiesen, dass eine Zelebration nur eine Ausnahme sein dürfe und ihm nur erlaubt sei, wenn nicht mit einer großen Öffentlichkeit zu rechnen sei. Den Sachverhalt haben wir vor einigen Wochen bereits in Absprache mit der Betroffenen öffentlich gemacht. Die Zielsetzung dabei war unter anderem, dass sich eventuell weitere Betroffene melden. Eine Frau hat dies inzwischen schon getan.

In meiner Verantwortung als Bischof von Münster muss ich in diesem Fall deutlich sagen: Ich habe Fehler gemacht! Zum einen hätte ich das Verbot sehr viel deutlicher formulieren müssen. Was heißt „Gottesdienste ohne große Öffentlichkeit“? Das ist unpräzise und muss künftig unbedingt unmissverständlich und klar formuliert werden.

Ich hätte den verantwortlichen Pfarrer vor Ort, das Seelsorgeteam und die verantwortlichen Gremienmitglieder in Wadersloh über die Hintergründe des Sachverhaltes umfassend informieren müssen. Dem setzte der Wunsch der Betroffenen, die Öffentlichkeit nicht zu informieren, möglicherweise  Grenzen, aber es hätte gemeinsam mit ihr nach einem Informationsweg gesucht werden müssen, der ihren Interessen gerecht wird und zugleich die Pfarrei nicht im Unklaren lässt. Dann wäre es insgesamt leichter gewesen, einer möglichen Missachtung von Auflagen wirksam entgegenzutreten. Information und Kommunikation müssen künftig anders sein.

Ich sehe auch, dass ich den ernstzunehmenden Hinweisen, dass der Priester sich nicht an das ausgesprochene Verbot hält, noch konsequenter hätte nachgehen müssen. Das ist mein Fehler und das habe ich zu verantworten. Für die Zukunft werden wir hier klarere Regelungen finden.

Zudem werde ich prüfen lassen, in welchem Umfang weitergehende Strafen, wie etwa deutliche Gehaltkürzungen oder andere Auflagen angezeigt sind. Sicher ist: Verurteilte Missbrauchstäter oder auch Priester, bei denen es strafrechtlich oder kirchenrechtlich unstrittig ist, dass sie Kinder oder Jugendliche missbraucht haben, dürfen nicht mehr in der Seelsorge eingesetzt werden. Alle priesterlichen Dienste müssen ihnen untersagt werden. Das ist die Leitschnur, für die ich stehe und die ich umsetzen werde.

Ich weiß, dass manche Betroffene sich mit einer Bitte um Entschuldigung durch kirchliche Verantwortungsträger wie mich schwer tun. Dennoch sage ich allen Betroffenen auf diesem Wege, dass es mir aufrichtig leid tut, dass durch die unklar formulierten Auflagen meiner Dekrete neue Verletzungen entstanden sind. Ich verstehe auch, dass es etwa in der Pfarrei Wadersloh, aber auch in Kevelaer und andernorts viel Unverständnis, Wut und Verärgerungen über die ausgebliebene Kommunikation gab und gibt. Das haben mir die Gremien aus Wadersloh auch geschrieben. Ich werde in der kommenden Woche das Gespräch mit den Gremien und dem Seelsorgeteam in der Pfarrei in Wadersloh führen. Insgesamt haben wir auch hier gelernt: Künftig wird, wenn es Informationsveranstaltungen in Pfarreien gibt, immer ein Vertreter der Bistumsleitung, also ich selbst, der Generalvikar oder einer der Weihbischöfe dabei sein.

Liebe Katholikinnen und liebe Katholiken,

der Umgang mit Fällen sexuellen Missbrauchs bleibt eine ständige Aufgabe und Herausforderung. Auch, wenn es nicht sein darf, so können dabei leider doch weiterhin Fehler passieren. Durch die hohe Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit und die Sensibilität für dieses Thema werden wir als Verantwortungsträger und werde ich als Bischof heute unmittelbar mit diesen Fehlern konfrontiert. Ich habe aus diesen Fehlern gelernt und lerne hier ständig weiter.  Von daher bin ich gerade denen, die Kritik äußern, dankbar. Denn die Kritik richtet immer wieder zu Recht den Fokus darauf, dass wir in jeder Hinsicht heute ein System des aufmerksamen Hinsehens benötigen. Das sind wir und das bin ich den Betroffenen sexuellen Missbrauchs und der heilenden und befreienden Botschaft des Evangeliums schuldig. Nur so kann es uns allen gemeinsam gelingen, sexuellen Missbrauch in unserer Kirche heute und in Zukunft, soweit das überhaupt möglich ist, zu verhindern.

Mit freundlichen Grüßen

Ihr
Bischof Felix Genn