„Das ist ja wie Troja ausgraben“

Als Hubert Wolf im Jahr 2004 den hochdotierten Communicator-Preis der deutschen Wissenschaft erhielt, wurde er für seine „mutige und sorgfältige Aufklärungsarbeit“ gerühmt. Der Münsteraner Kirchenhistoriker argumentiere gegen Vorurteile über die Geschichte der Kirche, lege aber ebenso mutig die Schwächen und Fehler der Institution dar, lobte die Deutsche Forschungsgemeinschaft. Und zeichnete seine Fähigkeit aus, wissenschaftliche Erkenntnisse auf besonders innovative und wirksame Weise zugänglich zu machen.

Am Dienstag, 26. November, wird der katholische Priester, der in der gegenwärtigen Debatte über die Zukunft der Kirche den Reformern wichtige Argumente liefert, 60 Jahre alt. Der im schwäbischen Wört geborene Leibnizpreisträger gilt als einer der Kirchenhistoriker, der sein Fach in größere interdisziplinäre Zusammenhänge der Politik- und Wissenschaftsgeschichte eingebunden hat.

(Foto: Spernol)

1991 erhielt Wolf erstmals eine Professur für Kirchengeschichte an der Uni Frankfurt. Seit dem Jahr 2000 lehrt er in Münster. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen das Verhältnis der Kirche zum Nationalsozialismus und zu anderen totalitären Regimen des 20. Jahrhunderts sowie die Kirchen-, Theologie- und Frömmigkeitsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts.

Als besonderer Glücksfall erwies sich, dass Wolf bereits seit 1992 Zutritt zu den Archiven der Inquisition und päpstlichen Indexkongregation im Vatikan hatte und 1999 in den wissenschaftlichen Beirat des Archivs der Glaubenskongregation berufen wurde. Seitdem haben er und sein Team enorme Mengen an neuem Wissen über die Geschichte der Kirche zu Tage gefördert.

Konservativen
ein Dorn im Auge

Das dürfte sich noch verstärken: Am 2. März 2020 sollen die vatikanischen Archive für den Zeitraum vom 2. März 1939 bis zum 9. Oktober 1958 für die Forschung geöffnet werden, also für die Amtszeit von Papst Pius XII. Im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses steht dabei dessen Haltung zum Holocaust. Die Spannung ist groß: „Das ist ein bisschen wie Weihnachten, Ostern und Pfingsten zusammen“, sagte Wolf kürzlich. Allerdings: Allein die Sichtung des Materials werde Jahre dauern. „Das ist wie Troja ausgraben.“

Immer wieder stellt der Kirchenhistoriker scheinbar Selbstverständliches in Frage. „Verdammtes Licht. Der Katholizismus und die Aufklärung“ lautet sein jüngstes Buch. Es lässt sich, ebenso wie seine vor wenigen Monaten erschienene Analyse „Zölibat. 16 Thesen“ als Stellungnahme zur Reformdebatte in der Katholischen Kirche lesen. Den konservativen Katholiken ist Wolf ein Dorn im Auge – auch weil er gefühlte Wahrheiten in Frage stellt und aus der Kirchengeschichte zahllose Beispiele für die Vielfalt katholischer Traditionen freilegt.

Die Kirche habe „immer wieder produktiv auf Herausforderungen reagiert und dabei einen wahren Schatz alternativer Konzepte und Modelle entwickelt“, betont Wolf. „Das, was wir heute Kirche nennen, besteht so erst seit dem 19. Jahrhundert.“ Nach der Französischen Revolution hätten sich Päpste und Bischöfe einem kompromisslosen Abwehrkampf gegen die Moderne verschrieben – und dabei die Monarchisierung und Hierarchisierung der Kirche vorangetrieben. Auch die Päpste Johannes Paul II. und Benedikt XVI. hätten Reformen zum Unwort erklärt, kritisiert der Kirchenhistoriker Verhärtungen im kirchlichen Selbstverständnis.
In diesem Zusammenhang befasst sich Wolf intensiv mit dem Konzil von Trient (1545-1563), das von konservativen Katholiken häufig als einzig legitime Form des Katholizismus betrachtet wird. Diese Kirchenversammlung habe in Wirklichkeit eine große Vielfalt von Formen des Katholischen gekannt, sogar in der Liturgie, betont er.

In der gegenwärtigen Debatte in der Katholischen Kirche registriert Wolf eine starke „Verrohung“. Gegner würden schnell als „Ketzer“ oder „Häretiker“ diffamiert. Wie selten zuvor werde die Diskussion unter der Gürtellinie geführt. Wolf mahnt dringende Reformen an. Er spricht sich etwa für die Abschaffung der Zölibatspflicht, die Einführung einer unabhängigen Verwaltungsgerichtsbarkeit, eine zeitgemäße Sexualmoral und die Wahl der Bischöfe unter Beteiligung der Gläubigen aus.

Christoph Arens