Bonn – Einen grundlegenden Perspektivwechsel bei der Bekämpfung von sexuellem Missbrauch in der katholischen Kirche fordert die Erfurter Kirchenrechtlerin Myriam Wijlens. Sexuelle Vergehen von Klerikern an Minderjährigen würden immer noch als Verletzung des Zölibats und der kirchlichen Sexualnormen sanktioniert. Sie müssten aber als Verletzung der Menschenwürde von Kindern interpretiert und geahndet werden, sagte das Mitglied der Päpstlichen Kinderschutzkommission am Donnerstag in Bonn. Dieser veränderte Blickwinkel hätte erhebliche Auswirkungen auf das Kirchenrecht.
Wijlens forderte mit Blick auf die Missbrauchsthematik weitere Reformen im kirchlichen Rechtssystem. So müsse die Anhörung und Beteiligung der Opfer in Verfahren ermöglicht werden. Außerdem müsse die bisherige kirchliche Rechtssprechung veröffentlicht werden: Bislang habe niemand – weder Richter noch Beschuldigte – Zugang zu den in Missbrauchsverfahren bisher getroffenen Entscheidungen. Damit seien faire Verfahren nicht möglich.
Mangel an Kenntnissen über die Missbrauchsthematik
Die Kirchenrechtlerin kritisierte zudem eine fehlende Aus- und Fortbildung des Personals in den Kirchengerichten. Dort habe kaum jemand aktuelle Kenntnisse über die Missbrauchsthematik erworben. Wijlens bescheinigte dem Vatikan, beim Vorgehen gegen Missbrauch in den vergangenen Jahren viel dazugelernt und vorangegangen zu sein. Die Umsetzung in den Ortskirchen dauere aber vielfach zu lange; unterschiedliche nationale Rechtssysteme und Traditionen sorgten für Ungleichzeitigkeiten im kirchlichen Umgang mit sexuellem Missbrauch.
„Der Heilige Stuhl ist auch der deutschen Kirche weit voraus“, sagte sie. Papst Franziskus habe durchgesetzt, dass auch Bischöfe und Ordensobere, die Missbrauchstäter gedeckt oder vertuscht hätten, ihres Amtes enthoben werden könnten. In der Bundesrepublik werde die Frage nach der persönlichen Verantwortung von Bischöfen und möglichen Rücktritten gerade erst gestellt. Offen sei auch die Frage, ob nicht nur für das Vergehen des sexuellen Missbrauchs ein Schadensersatz geleistet werden müsse, sondern auch für den Schaden, den die Verantwortlichen durch Vertuschen und falsches Handeln verursacht hätten. Die Kirchenrechtlerin forderte in diesem Zusammenhang auch eine Diskussion darüber, welche Kriterien ein Geistlicher erfüllen müsse, damit er für ein bischöfliches Amt in Frage kommt.
Entscheidungen auf der Grundlage kirchlicher Aktenzulieferungen getroffen
Die Kölner Strafrechtsprofessorin Frauke Rostalski kritisierte eine mangelnde Bereitschaft von Staatsanwaltschaften, bei kirchlichen Fällen hart zu ermitteln. Nirgendwo in Deutschland seien kirchliche Räume durchsucht worden. Entscheidungen zur Aufnahme oder Einstellung von Verfahren seien auf der Grundlage kirchlicher Aktenzulieferungen getroffen worden. Wijlens und Rostalski äußerten sich bei einer Tagung der Bonner „Kommission für Zeitgeschichte“ zum Thema „Katholische Dunkelräume. Die Kirche und der sexuelle Missbrauch“.