Berlin – Der Terrorismusexperte Peter R. Neumann rechnet mit weiteren islamistischen Anschlägen in Europa. Es sei eine große Gefahr, dass in Europa in den kommenden Monaten Hunderte Dschihadisten aus Gefängnissen freikämen, sagte der Wissenschaftler vom Londoner Kings College dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (Mittwoch).
Die meisten von ihnen seien nach 2010 verurteilt worden, allerdings meist zu relativ kurzen Strafen, so Neumann. Nicht alle dieser Hunderte von Islamisten seien entradikalisiert. „Auf diese Herausforderung haben sich nur wenige Staaten vorbereitet.“ Diese strategische Lücke müsse rasch geschlossen werden. Sowohl der Attentäter von Dresden als auch der von Wien waren bis vor kurzem inhaftiert.
islamistische Szene war „demoralisiert und zerstritten“
Neumann fügte hinzu: „Die islamistische Szene war nach dem Niedergang des ‚Islamischen Staates‘ (IS) demoralisiert und zerstritten.“ Durch die Konfrontation mit den Ereignissen in Frankreich und dem neuen Streit um die Mohamed-Karikaturen hätten sie nun ein neues Thema, das mobilisiere und zu Anschlägen führe. Diese seien dazu gedacht, weitere Anschläge anzustoßen, so der Experte. „Das bedeutet: Der islamistische Terrorismus ist nicht so gefährlich wie vor fünf Jahren. Aber er ist gefährlicher als vor einem Jahr, weil in der Szene eine neue Grundspannung entsteht.“
Gefährlich sei ein neuer Motivationsschub für potenzielle Täter, sagte Neumann: „Viele Mitglieder der Szene denken: Jetzt passiert wieder was.“ Deshalb werde es in den kommenden Monaten überall in Europa gefährlich bleiben.
Islam-Experte: Für Terroristen ist Corona ein idealer Nährboden
Für den Islamwissenschaftler Michael Kiefer könnte hinter den derzeit sich häufenden islamistischen Anschlägen ein geplantes Szenario stecken. „Das der Orchestrierung. Das heißt, dass wir es hier nicht mit einer zufälligen Häufung zu tun haben, sondern dass Kräfte im Hintergrund systematisch dazu aufrufen und ihre Anhängerschaft ermuntern“, sagte Kiefer dem Portal katholisch.de am Mittwoch in Bonn.
Es gebe Kader der Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS), die immer noch aktiv seien und auf eine günstige Gelegenheit warteten. „Da spielt auch die Corona-Pandemie eine Rolle, denn sie hat in den europäischen Gesellschaften bereits zu einer tiefen Krise geführt und für Spannungen gesorgt“, so der Wissenschaftler vom Institut für Islamische Theologie in Osnabrück. „Wer als Terrorist erfolgreich ein Konzept der Spannung verfolgen will, findet in der Corona-Krise einen idealen Nährboden.“ Belegen könne er dies nicht, so Kiefer, aber er glaube nicht an einen Zufall.
Möglichkeit von Resonanzanschlägen
Als zweites Szenarien ist laut Kiefer denkbar, dass es sich etwa um sogenannte Resonanzanschläge handelt. „Irgendjemand verübt also einen Anschlag und bekommt dadurch viel mediale Aufmerksamkeit, danach legt jemand anderes nach und verstärkt die Aufmerksamkeit dadurch. Das wiederum ermuntert andere. So reiht sich das eine an das andere“, so der Experte.
Vor zwei Wochen wurde der Lehrer Samuel Paty in der Nähe von Paris enthauptet, nachdem er im Unterricht Mohammed-Karikaturen gezeigt hatte. Bei einem Messerangriff in einer Kirche in Nizza wurden in der vergangenen Woche drei Menschen getötet, vor dem Pariser Redaktionsgebäude des Satire-Magazins „Charlie Hebdo“ verletzte ein Attentäter zwei Menschen mit einem Messer. Am Wochenende wurde in Lyon auf einen orthodoxen Geistlichen geschossen, am Montag erschoss ein mutmaßlicher Islamist in Wien vier Menschen.