Die frühere Aachener Bistumsspitze hat im Umgang mit Missbrauchsfällen versagt – das legt ein nun veröffentlichtes Gutachten nahe. Die Experten geben den heute Verantwortlichen auch Empfehlungen.
Aachen – Viel Milde gegenüber Tätern und wenig Verständnis für Opfer. Das am Donnerstag vorgestellte Gutachten der Münchner Kanzlei Westphal Spilker Wastl über den fehlerhaften Umgang von Verantwortlichen im Bistum Aachen mit Missbrauchstätern unter den Geistlichen bestätigt ein schon oft beschriebenes Phänomen. Das Brisante diesmal: Die Vorfälle rund um ausbleibende Konsequenzen für einschlägige Kleriker werden mit Namen unterlegt. Die Vorwürfe treffen neben schon verstorbenen Führungskräften zwei lebende – Altbischof Heinrich Mussinghoff (80), der die Diözese von 1994 bis 2015 leitete, und seinen Generalvikar Manfred von Holtum.
Gutachter: „Das Bild einer befleckten Kirche musste unbedingt vermieden werden“
Zumindest für die Zeit bis zum Jahr 2010, als der Missbrauchskandal in der deutschen Kirche aufflog, trifft sie dieselben Vorwürfe wie die zuvor amtierenden Bischöfe Johannes Pohlschneider (Amtszeit 1954 bis 1974) und Klaus Hemmerle (1975 bis 1994) sowie den Generalvikar Karlheinz Collas (1978 bis 1997): Dem leitenden Personal habe mehr am Täterschutz und kaum an der Fürsorge der Opfer gelegen. „Das Bild einer befleckten Kirche musste unbedingt vermieden werden“, so die Gutachter. Über Jahrzehnte seien oft auffällige und auch strafrechtlich verurteilte Geistliche wieder in der Seelsorge eingesetzt und damit das Risiko weiterer Opfer in Kauf genommen worden. Immerhin: Der charismatische Bischof Hemmerle habe auch Opfer besucht, ihnen die Übernahme von Therapiekosten angeboten und in der Personalkonferenz einen Fachmann über das Thema Missbrauch referieren lassen. Leider sei er 1994 zu früh gestorben.
Die Gutachter beschreiben auch einen weiteren schon bekannten Fakt: Schlampig geführte Akten in der Diözese. Die Dokumentation weise auffällige Lücken auf; in einem Fall könnte es eine gezielte Säuberung gegeben haben. Erst seit 2010 sei eine Änderung in der Aktenführung erkennbar.
Gutachten untersucht die Handhabung im Bistum Aachen von 1965 bis 2019
Das die Jahre 1965 bis 2019 umfassende Gutachten thematisiert laut Kanzlei nicht nur Rechtsfragen. Es gehe auch darum, ob das Verhalten dem kirchlichen Selbstverständnis entsprach. Die Untersuchung zählt Übergriffe von 81 Priestern, darunter zwei Diakone. Die Zahl der Opfer beläuft sich auf 175, fast drei Viertel von ihnen männlich.
Die Anwälte schildern 14 Fälle im Bistum Aachen genauer. Darunter ist der eines Geistlichen, der vor einigen Jahren wegen Missbrauchs verurteilt und laisiert wurde. Er sei schon Anfang der 2000-er Jahre wegen Saunabesuchen mit Ministranten aufgefallen. Der Priester hat aber nach eigenen Aussagen damals keine Sanktionen seitens des von Mussinghoff und von Holtum geführten Bistums erfahren. Auch einen anderen Fall werfen die Münchner Anwälte Mussinghoff vor: Einem zweimal verurteilten Geistlichen, der schon zurückgezogen in einem Frauenkloster lebte, habe er 1995 den Pfarrertitel verliehen.
Kritik schon vor Veröffentlichung
Schon vor der Veröffentlichung der Untersuchung hatten der Altbischof und sein Generalvikar erklärt, dass sie von der Expertise wenig halten. In einer Stellungnahme von Mussinghoffs Anwalt heißt es, dieser habe direkt nach Amtsantritt klar gemacht, wie ernst ihm die Aufklärung der Missbrauchsproblematik sei. Zu den „pauschalen Vorwürfen“, er habe sich nicht um die Opfer gekümmert, verweist sein Rechtsvertreter unter anderem auf die Möglichkeit, dass Betroffene sich an den Missbrauchsbeauftragten im Bistum Aachen hätten wenden können.
Gutachter Ulrich Wastl beteuert, Mussinghoff und von Holtum sollten nicht „an den Pranger“ gestellt werden. Es gehe um die Fehler im System – etwa um das katholische Verständnis vom Priestertum. Weil die geweihten Amtsträger besonders als Mittler zu Gott gälten, halte die Bistumsleitung eher über die Täter als über die Opfer ihre schützende Hand. Zudem zeigten Verantwortliche eine „beklemmende Sprachlosigkeit“ in Fragen der Sexualität sowie eine fehlende Sachkompetenz in der Personalführung.
Gutachter empfehlen „wohlverstandene Täterfürsorge“
Dem heutigen Bischof Helmut Dieser und seinem Generalvikar Andreas Frick legen die Gutachter vor allem nahe, Frauen in die Leitung der Diözese einzubinden. Zudem komme es auf eine „wohlverstandene Täterfürsorge“ an. Die Geistlichen seien zwar nicht mehr als Seelsorger einzusetzen, wohl aber im kirchlichen Umfeld, um sie sozial zu kontrollieren. Dieser und Frick haben mit der Öffentlichkeit die Ergebnisse erstmals zur Kenntnis genommen. Sie wollen sich erst später zu den Inhalten äußern.