Scherbenhaufen im Bistum Chur

Die Verbitterung ist groß im Schweizer Bistum Chur, das Medienecho vernichtend. Das Churer Domkapitel hat freiwillig auf sein Recht zur Bischofswahl verzichtet; weil ihm die Kandidatenliste des Papstes nicht konservativ genug. Oder soll man sagen: nicht katholisch genug – war? Man traute Franziskus wohl nicht zu, zumindest einen geeigneten Bischof gefunden zu haben.
Die Verbitterung ist groß im Schweizer Bistum Chur, das Medienecho vernichtend. Das Churer Domkapitel hat freiwillig auf sein Recht zur Bischofswahl verzichtet; weil ihm die Kandidatenliste des Papstes nicht konservativ genug. Oder soll man sagen: nicht katholisch genug - war? Man traute Franziskus wohl nicht zu, zumindest einen geeigneten Bischof gefunden zu haben.

(Symbolfoto: marcelkessler/ Pixabay)

Dass Rom, so wie im deutschsprachigen Raum weithin üblich, einem Bistum Mitsprache bei der Bischofswahl einräumt, ist aus weltkirchlicher Sicht eine Kuriosität – und geht letztlich auf den Investiturstreit des Mittelalters zurück, in dem Papst und Kaiser mittels der Einsetzung der Bischöfe um ihre Vorherrschaft rangen. In den Verhandlungen der Konkordate zwischen Staat und Kirche im 19. Jahrhundert kehrten die Mitbestimmungsrechte der Domkapitel in verschiedenen Formen zurück.

In Rom sind diese transalpinen Sonderrechte wenig geliebt – und nicht selten sah die aus Rom vorgelegte Dreierliste nur einen ernsthaften Kandidaten vor. So war es auch 2007 in Chur, als zwei im Bistum Unbekannte benannt waren – und der konservative Generalvikar Vitus Huonder. Der wurde dann Churer Bischof und blieb es bis 2019. Domkapitular Franz Stampfli wertete dies als faktische Aushebelung des Wahlrechts – weil eigentlich keiner der drei wählbar gewesen sei.

Fall Meisner kommt  der Selbstaushebelung am nächsten

Keiner wählbar, so lautete auch diesmal das Argument – aber dass die Kandidaten des Papstes der knappen konservativen Mehrheit im Kapitel zu liberal erscheinen und sie deshalb lieber gar nicht wählen, das ist neu. Als der Papst in Rom noch konservative Kandidaten durchbringen wollte – insbesondere im langen Pontifikat Johannes Paul II. (1978-2005) – verliefen die Konfliktlinien gänzlich anders: etwa in den Fällen Wolfgang Haas (Chur) oder Joachim Meisner (Köln).

Der Fall Meisner kommt wohl der Selbstaushebelung des Kapitels und der Churer Nichtwahl von 2020 noch am nächsten. 1988 hatte sich das Kölner Domkapitel auf keinen Kandidaten der Dreierliste mit der in Köln erforderlichen absoluten Mehrheit einigen können. Rom drohte darauf mit der Ernennung des damals als ultrakonservativ geltenden Fuldaer Bischofs Johannes Dyba. Nach hochrangigen politischen Interventionen (bis hin zu Bundeskanzler Helmut Kohl) hieß der Ausweg, das Kölner Wahlstatut zu ändern und eine Wahl mit einfacher Mehrheit zu ermöglichen. Die gewann dann der ebenfalls konservative Berliner Erzbischof Meisner – zum großen Unwillen des unterlegenen „liberalen Flügels“ im Kapitel und im Erzbistum.

Kirchengremien fordern Grichtings Rücktritt

Im Churer Kapitel gab bei der jüngsten Nichtwahl laut dem durchgestochenen Sitzungsprotokoll eine konservative Mehrheit unter dem Huonder-Ziehsohn Martin Grichting den Ton an. Sein Vorgehen – inklusive der versuchten Geheimhaltung der Wahlansetzung, der Aussetzung der traditionellen Messe vor der Wahl und der Einschüchterung von Journalisten – steht nun massiv in der Kritik. Sogar Kirchengremien fordern Grichtings Rücktritt.

Der Kirchenhistoriker Markus Ries von der Universität Luzern kommentiert das Geschehen in klaren Worten: „Wer zu einer Funktion bestellt ist, der muss sie auch ausüben. Es gibt auch Pflichten; es gibt nicht nur Rechte. Und das gilt auch für Domkapitulare.“ Welche Glaubwürdigkeit, fragt Ries, „hat ein Kapitel, das von seinem Wahlrecht keinen Gebrauch macht?“ Der Kommentator des Zürcher „Tages-Anzeigers“ nennt das Verhalten der derzeitigen Bistumsleitung „sektenhaft“ und „beschämend“. Selbst mit dem Restbestand kirchlicher Demokratie wisse das Kapitel nichts anzufangen. „Keine Demokratie, keine Kommunikation: Das sind Kennzeichen von autoritären Regimen, im religiösen Bereich von Sekten.“

Kandidatenliste bot ein breites und ausgewogen-moderates Spektrum

Dabei hatte Papst Franziskus mit seiner Kandidatenliste durchaus ein breites und ausgewogen-moderates Spektrum angeboten. Einer der drei gehört sogar dem konservativen Opus Dei an. Stellt sich die Frage, wie es nun weitergeht in Chur mit seiner schwierigen Struktur zwischen ländlich-konservativ und großstädtisch-liberal. Ein Kommentator empfahl den Gläubigen, der Bistumsleitung um Generalvikar Grichting einfach den finanziellen Geldhahn abzudrehen – was in der Schweiz durchaus möglich ist.

Dass der Papst dem Churer Kapitel noch einmal entgegenkommt und – wie weiland in Köln – einen erneuten Wahlgang ermöglicht, ist eher unwahrscheinlich. Zumal eine neue Dreierliste, wie der Kirchenrechtler Urs Brosi bemerkt, künftig wohl auch andere Diözesen motivieren würde, bei Missfallen die Liste aus dem Vatikan zurückzuweisen und auf eine neue zu warten; also „ein renitentes Machtspiel mit Rom zu beginnen“, so Brosi.

Das zerstrittene Bistum wartet schon allzu lange

Möglich wäre, dass der Papst die Amtszeit des wenig erfolgreichen Interimsleiters Bürcher verlängert oder aber einen Visitator, also eine Art externen Vermittler, nach Chur schickt. Gegen beides spricht, dass das zerstrittene Bistum schon allzu lange wartet – und dringend einen Neuanfang braucht. Das Kirchenrecht sieht vor allem das kanonische Verfahren vor: die freie Ernennung eines neuen Bischofs durch den Papst.

Ob Franziskus einen der Kandidaten seiner Dreierliste auswählt oder einen ganz anderen Namen, wie sie in den vergangenen Jahren in Fülle kursierten, ist nicht abzusehen. Fest steht, dass der scheidende Nuntius Erzbischof Thomas Gullickson, der seinen Posten zum Jahresende räumt, dem Findungsprozess wohl keine neuen Impulse mehr wird geben können.

Wahl zwischen einflussreichen Feinden unter den Hirten oder zahlreichen Feinden in der Herde

Und fest steht auch, dass der neue Bischof, wo immer er kirchenpolitisch angesiedelt ist, ziemlich rasch eine so schwierige wie grundlegende Entscheidung treffen muss: ob er sich mit der konservativen Huonder-Riege einlässt oder einen glatten Schnitt vollzieht. Ohne diesen Schnitt dürfte er bei vielen im Kirchenvolk kein Bein an die Erde bekommen. Oder, wie ein Kommentator formulierte: der Neue habe die Wahl zwischen einflussreichen Feinden unter den Hirten oder zahlreichen Feinden in der Herde.

Von Alexander Brüggemann (KNA)