Unmut an Kirchenbasis wächst

Unmut statt Demut – der Ärger über Skandale oder Bischöfe hat nun auch treue Kirchgänger erfasst. Und das größte Problem kommt wohl erst. Dabei suchen viele Menschen Trost und Halt, nicht nur in diesen Weihnachtswochen.
Unmut statt Demut - der Ärger über Skandale oder Bischöfe hat nun auch treue Kirchgänger erfasst. Und das größte Problem kommt wohl erst. Dabei suchen viele Menschen Trost und Halt, nicht nur in diesen Weihnachtswochen.

(Foto: Judith Lorenz)

O du fröhliche“? Mitten in der coronagetrübten Weihnachtszeit taumelt die katholische Kirche in Deutschland durch eine ihrer größten Krisen. Unsägliche neue Berichte über Missbrauch, Rufe nach dem Rücktritt von Bischöfen, Kirchenaustritte auf Rekordniveau – all das sorgt für Schlagzeilen. Doch das Hauptproblem steht wohl noch bevor. Es tickt leise und drohend wie eine Zeitbombe: der zunehmende Auszug von Gläubigen.

Mittlerweile lähmt die Krise sogar das Herz vieler Pfarreien und die treuesten Kirchgänger. „Es herrscht Wut, es herrscht Enttäuschung, es herrscht Resignation und das hat leider auch die Mitte unserer aktiven Gläubigen erreicht“, sagt etwa der Vorsitzende des Katholikenausschusses Köln, Gregor Stiels. In der Stadt mit dem weltberühmten Dom gibt es so viele Kirchenaustritte, dass das Amtsgericht dafür erst wieder ab März Termine vergibt.

Die Mauer des mitbrüderlichen Schweigen bröckelt

Zwar äußern sich Bischöfe fast nie über Vorgänge in anderen Diözesen, aber im Fall Köln bröckelt die Mauer des mitbrüderlichen Schweigens längst. Der Münchner Kardinal Reinhard Marx nennt die Vorgänge rund um die Missbrauchsstudien am Rhein „verheerend“ für die gesamte Kirche. Und neben weiteren meldete sich auch der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz besorgt zu Wort. Bischof Georg Bätzing: „Dass das jetzt in ein regelrechtes Desaster gemündet ist und auf uns alle abfärbt, das ist nicht gut.“

Denn mit fast zwei Millionen Katholiken ist Köln das größte Bistum im deutschsprachigen Raum. Kardinal Rainer Maria Woelki hat nach Vertuschungsvorwürfen und mehreren umstrittenen Aktionen seine Zukunft in die Hand des Papstes gelegt und Franziskus um Prüfung gebeten. Ebenso der frühere Kölner Generalvikar und heutige Hamburger Oberhirte Stephan Heße – zwei deutsche Erzbischöfe im Fokus des Vatikan. Das ist ungewöhnlich – und der Ausgang ungewiss.

Erschütternde Berichte über Missbrauch

Hinzu kommen erschütternde Berichte über organisierten Kindesmissbrauch in einem Nonnenkloster in Speyer. Hinter vorgehaltener Hand macht selbst in Bistumsleitungen das Wort Fremdschämen die Runde. Vieles hat dazu beigetragen, dass bundesweit zuletzt so viele Menschen aus den christlichen Kirchen austraten wie nie – gut eine halbe Million Frauen und Männer. Fast alle Bistümer haben bereits einen drastischen Sparkurs eingeläutet. Und manche Pfarrer stoppen resigniert die Praxis, Ausgetretenen mit einem einfühlsamen Brief ein Gespräch vorzuschlagen: „Im Moment passt das einfach nicht.“

Selbst das mit großen Hoffnungen gestartete Reformprojekt Synodaler Weg scheint nicht so recht voranzukommen, zumindest was die Strahlkraft nach außen betrifft. Das Ganze wirke wie ein „Debattierclub“, kritisierte zuletzt der frühere Vorsteher von Kloster Andechs in Bayern, Anselm Bilgri. Von der römisch-katholischen Kirche sei er enttäuscht. „Ich glaube nicht mehr an den aufrichtigen Reformwillen.“

Kleinere Reform-Gruppen wie Maria 2.0 vernetzen sich

Auch die kirchliche Protestgruppe „Wir sind Kirche“ ist in die Jahre gekommen. Weil sie stets um dieselben innerkirchlichen Themen kreist, sucht der Protest neue Wege. An der Basis rumort es lauter und lauter. Pater Klaus Mertes, der den Missbrauchsskandal ins Rollen brachte, spricht von einer Art Kernschmelze. Aktive Christen machen ihrem Ärger in Briefen an Bischöfe Luft – und stellen sie immer öfter ins Internet. Mit Blick auf den Erzbischof heißt es etwa: „Wir fühlen uns als Engagierte vor Ort, die wir uns immer öfter für unser Engagement in der katholischen Kirche rechtfertigen müssen, auch in unserer Arbeit diskreditiert.“ Kleinere Reformgruppen wie Maria 2.0 vernetzen sich, um sich mehr Gehör zu verschaffen. So starteten sie unlängst eine Online-Demo, live übertragen auf Facebook und Youtube.

Und dennoch, trotz Krise und Corona: In den gefühlsduseligen Weihnachtswochen liegt ein besonderer Hauch von Sehnsucht in der Luft. In kleinen Kapellen und imposanten Kathedralen geben ungezählte Kerzenflammen und persönliche Zeilen davon Zeugnis. Sie lassen erahnen, was Menschen erhoffen, erträumen, ersehnen, erbitten. Auch in und von den Kirchen, die mit zusammen 55 Millionen Mitgliedern immer noch die mit Abstand größte Religionsgemeinschaft in Deutschland bilden. Vor Ort halten viele normale Gläubige, sogenannte Laien, das kirchliche Leben bisher noch in Schwung, oft mit einer Extra-Portion Fantasie: die Suppenküche für Bedürftige, (digitale) Sprachkurse für Flüchtlinge, Empfangsdienste für Abstand und Hygiene bei den Gottesdiensten – alles ehrenamtlich, ebenso wie die Mitarbeit in Gremien, beim Ausliefern von Weihnachtsbäumen oder bei Einkäufen für andere.

Zahlreiche „Engel ohne Flügel“

Zwischen Ostsee und Bodensee schwirren zahlreiche „Engel ohne Flügel“ umher, die ohne viel Aufhebens zupacken oder zuhören, mit offenen Augen und Herzen durch die Straßen gehen. Die Helfer im Stillen (vor allem Helferinnen) stehen naturgemäß nicht im Rampenlicht. „Und man siehet die im Lichte, die im Dunkeln sieht man nicht“, formulierte schon Bertolt Brecht. Allerdings bemüht sich auch eine ganze Reihe von Bischöfen und Generalvikaren ebenso ernsthaft wie geräuschlos um einen neuen Stil: ehrliche Aufarbeitung, verständliche Sprache ohne Kirchenlatein und Juristendeutsch, möglichst nah an Menschen – nach dem unausgesprochenen Motto „Wir haben verstanden.“ Der Gottesdienst kann dann auch mal im Obdachlosenheim stattfinden, im Gefängnis oder in der Kneipe. Im Moment natürlich mit Distanz, aber trotzdem nicht distanziert.

Von Thomas Winkel (KNA)