Dass Jorge Bergoglio früher eine Psychiaterin aufgesucht hat, war bekannt. In einem am Samstag veröffentlichten Gespräch mit einem argentinischen Journalisten spricht der Papst erstmals ausführlicher über diese Erfahrung.
Buenos Aires/Rom – Papst Franziskus hat sich als 42-Jähriger ein halbes Jahr lang wöchentlich von einer Psychiaterin beraten lassen. Dabei setzte er sich vor allem mit seiner Angst-Neurose auseinander, die er nach eigenen Worten inzwischen gut im Griff hat. In einem Gespräch mit dem argentinischen Mediziner, Journalisten und Autor Nestor Castro erzählt der Pontifex ausführlich davon.
Geführt wurde das Gespräch vor gut zwei Jahren, im Februar 2019, im Vatikan. Dass Castro es erst jetzt veröffentlicht, liegt daran, dass parallel sein Buch „La Salud de los Papas“ (Die Gesundheit der Päpste) erscheint. Ähnliche Bücher verfasste Castro, der in Argentinien auch zwei TV-Shows moderiert, über die frühere Staatspräsidentin Christina Kirchner sowie Eva Peron.
Wie viele Papst-Interviewer ist auch Nelson Castro ganz euphorisch: „Pünktlich um 11 Uhr – wie geplant – öffnet sich die Tür der Bibliothek. Und dort wartet Franziskus auf mich“, schreibt er im Vorspann des Interviewauszugs. Der Pontifex wisse, „dass er kurz vor einem einzigartigen Ereignis steht: Zum ersten Mal wird ein Papst ausführlich und detailliert über seine Gesundheit sprechen. Es wird ein langes Interview von einer Stunde und fünfzehn Minuten sein, das Geschichte machen wird. Ich sehe ihn glücklich.“
Wenn der Argentinier auf dem Stuhl Petri schon nicht in sein Heimatland reist, sollen seine Landsleute doch einen möglichst lebendigen Eindruck von ihm bekommen. Und Franziskus weiß, dass er zu Landsleuten spricht.
Auf die Frage, wie bewusst ihm seine Neurosen seien, antwortet Franziskus: „Neurosen müssen mit Mate gefüttert werden. Nicht nur das, man muss sie auch streicheln.“ Denn, so der Papst, Neurosen begleiteten einen Menschen sein Leben lang. „Ich erinnere mich, dass ich einmal ein Buch las, das mich sehr interessierte und mich laut lachen ließ“: „Be Glad Your’re Neurotic“ von dem US-amerikanischen Psychiater Louis E. Bisch.
Daraufhin habe er beschlossen, sich seiner eigenen Neurosen zu widmen. Er selber habe unter der Angstneurose gelitten, „alles jetzt und sofort machen zu wollen“, so Franziskus. Deshalb müsse man wissen, wie man langsamer wird. Dabei erinnert er an einen Napoleon Bonaparte zugeschriebenen Ausspruch: „Zieh mich langsam an, ich bin in Eile“.
Inzwischen, so fährt Franziskus fort, habe er seine Ängste gut gezähmt. „Wenn ich mit einer Situation konfrontiert werde oder mich einem Problem stellen muss, das mich ängstlich macht, halte ich es auf.“ Dazu habe er verschiedene Methoden; eine davon sei Musik von Johann Sebastian Bach zu hören. „Die beruhigt mich und hilft mir, Probleme besser zu analysieren.“ Es wäre gefährlich und schädlich für ihn, Entscheidungen in einem Zustand der Angst zu treffen. Das Gleiche gelte für Traurigkeit über die Unmöglichkeit ein Problem zu lösen.
Auslöser dafür, sich beraten zu lassen, waren Bergoglios Erfahrungen als Jesuiten-Provinzial in den 1970er Jahren während der Militärdiktatur: Er habe Menschen in ein Versteck bringen müssen, um sie außer Landes zu bringen und ihr Leben zu retten, vorbei an Militärposten. „Ich musste mit Situationen umgehen, von denen ich nicht wusste, wie ich damit umgehen sollte.“ Die Psychiaterin habe er angesprochen, weil diese ihm half, psychologische Tests von Ordenskandidaten auszuwerten. „Ihre Lehren sind für mich auch heute noch sehr nützlich“, so der Papst.
Auch aufgrund dieser eigenen Erfahrung sei er überzeugt, „dass jeder Priester die menschliche Psychologie kennen muss“. Zwar gebe es welche, die darum aus jahrelanger Erfahrung wissen, dennoch sei „ein Studium der Psychologie für einen Priester notwendig“. Allerdings dürfe ein Priester nicht selber zum Psychiater werden, „wegen des Problems der Übertragung und Gegenübertragung“. Da würden Rollen verwechselt, und der Priester höre auf, Priester zu sein, werde zum Therapeuten „mit einem Grad der Verwicklung, der es sehr schwierig macht, sich zu distanzieren“.
Am Ende fragt Castro den Papst, ob er Angst vor dem Tod habe. „Nein, überhaut nicht.“ – „Wie stellen Sie sich Ihren Tod vor?“ – „Als Papst, entweder im Amt oder emeritiert. Und in Rom. Ich gehe nicht zurück nach Argentinien.“