Bonn/Braunschweig – Die Zahlen verstören: Während weltweit im Jahr 2019 rund 690 Millionen Menschen hungerten, wandern in Deutschland jährlich rund zwölf Millionen Tonnen Lebensmittel auf den Müll – in privaten Haushalten allein 75 Kilogramm pro Kopf.
Das soll sich ändern: Vor zwei Jahren hat Bundesernährungsministerin Julia Klöckner (CDU) die „Nationale Strategie zur Reduzierung der Lebensmittelverschwendung“ vorgestellt. Das Ziel: die Menge weggeworfener Nahrungsmittel bis 2030 zu halbieren. Dazu muss an vielen Stellschrauben gedreht werden.
Einzelhandel sortiert 500.000 Tonnen aus
Am Mittwochabend hat das Bundesforschungsinstitut für Ländliche Räume, Wald und Fischerei in Braunschweig präzise Zahlen für den Lebensmittel-Einzelhandel vorgelegt. Danach werden dort jährlich rund 500.000 Tonnen Nahrungsmittel als Abfall aussortiert. Einbezogen wurden nicht nur Daten aus Supermärkten, Discountern und Verbrauchermärkten, sondern erstmals auch Drogeriemärkte, Bäckereien, Fleischereien, Onlinehandel, Wochenmärkte oder Tankstellen.
Errechnet haben die Wissenschaftler die Zahlen indirekt – aufgrund von Umsatzverlusten der Einzelhändler. Danach sind die abfall-bedingten Abschreibungen bei Brot- und Backwaren mit rund sechs Prozent am höchsten, gefolgt von Obst und Gemüse mit 4,3 Prozent. Noch unklar ist, wie viel tatsächlich auf den Müll wandert und wie viel gespendet oder als Tierfutter verwertet wird, so die Wissenschaftler. Nach Schätzungen werden 30 Prozent der Verluste gespendet – etwa an die Tafeln.
Privathaushalte wrfen am meisten weg
Auch wenn die 500.000 Tonnen als viel erscheinen: Auf den Lebensmittelhandel entfallen damit nur rund vier Prozent aller Lebensmittelabfälle. Mit Abstand am meisten Nahrungsmittel werfen nach Berechnungen der Braunschweiger Wissenschaftler von 2015 Privathaushalte in die Tonne – nämlich 52 Prozent oder 6,14 Millionen Tonnen. 18 Prozent fallen bei der Lebensmittelverarbeitung und 14 Prozent bei der Außer-Haus-Verpflegung an. 12 Prozent werden in der Landwirtschaft weggeworfen.
Der Handel sieht sich durch die neuen Zahlen bestätigt. Die Studie zeige, dass im Einzelhandel nur geringe Verluste anfielen, erklärt der Hauptgeschäftsführer des Bundesverbands des Deutschen Lebensmittelhandels, Franz-Martin Rausch. Grund zur Freude gebe es aber nicht – dahinter steckten Abschreibungen von fast 2,9 Milliarden Euro. Es gebe deshalb eine hohe Bereitschaft, die Verluste weiter zu reduzieren, so Rausch. Er lobte die Zusammenarbeit mit karitativen Einrichtungen. Anreizsysteme und der Abbau von rechtlichen Hürden könnten die Menge der Lebensmittelspenden noch erhöhen.
WWF zieht kritische Bilanz
Eine kritische Bilanz der „Nationalen Strategie zur Reduzierung der Lebensmittelverschwendung“ der Bundesregierung hatte kürzlich die Umweltschutzorganisation WWF Deutschland gezogen. Klöckner setzt auf Freiwilligkeit. Die Wirtschaft soll etwa für passendere Bestellgrößen, kleinere Warenlieferungen oder Preisaktionen für vor dem Ablauf stehende Lebensmittel sorgen. Junge Familien sollen für ein bewussteres Einkaufen sensibilisiert werden.
Immer noch aber fehlt aus WWF-Sicht eine systematische Erfassung, wieviele Lebensmittel in welchen Bereichen verschwendet und welche Abfälle vermieden wurden und wie viele Treibhausgasemissionen hierdurch eingespart wurden. Die Umweltorganisation lobte Großbritannien: Über Selbstverpflichtungen, klare Zielvereinbarungen und regelmäßige Berichterstattung hätten Einzelhandel und Produktion die Lebensmittelabfälle um 7,6 Prozent zwischen 2015 und 2018 verringert.
Bewusstsein in Deutschland ist gewachsen
Fest steht, dass das Bewusstsein für das Thema in Deutschland gewachsen ist. Seit 2012 gibt es etwa die Initiative „foodsharing“, die über 200.000 Nutzer in Deutschland, Österreich und der Schweiz hat. Dort können Privatpersonen Lebensmittel zum Verschenken anbieten. Immer mehr Supermärkte und Discounter nehmen auch krummes Bio-Obst und -Gemüse in ihr Angebot auf. Die Bundesregierung hat die bundesweite Initiative „Zu gut für die Tonne“ gegründet. Sie gibt Tipps, wie man Einkäufe besser plant, Lebensmittel richtig lagert oder Reste verwertet. Dazu gibt es Rezepte, die verraten, was man also mit altem Brot und Gemüseresten im zweiten Anlauf noch auf den Tisch zaubern kann.