Die katholische Kirche sollte nach Einschätzung des Berliner Theologen Georg Essen ihre Reformfähigkeiten stärker nutzen.
Berlin – Die katholische Kirche sollte nach Einschätzung des Berliner Theologen Georg Essen ihre Reformfähigkeiten stärker nutzen. „Wenn man die gesamte Bandbreite der Traditionen nimmt, ist in der Kirche mehr an Innovation und Veränderung möglich, als so manche Konservativen und Restaurativen unterstellen“, sagte Essen in einem am Freitag verbreiteten Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA).
Kontakt „nahezu abgebrochen“
Der Direktor des Instituts für Katholische Theologie an der Humboldt-Universität warb für eine „Freiheit zur Reform, um jene synodalen Strukturen aufzugreifen und weiterzuentwickeln, wie sie im ersten Jahrtausend der Kirchengeschichte bestanden haben“. Auch die Päpste im Hochmittelalter und im 19. Jahrhundert hätten „epochale Wendungen eingeleitet, die die Gestalt der Kirche jeweils tiefgreifend, geradezu revolutionär verändert haben“.
Allerdings habe das römische Lehramt im Laufe der Zeit „die alleinige Definitionsmacht an sich gezogen, über Schrift und Tradition autoritativ zu befinden“, kritisierte der Professor für Systematische Theologie. Spätestens seit Papst Johannes Paul II. glaube es, „seine eigene Theologie treiben zu können“. Der Kontakt zwischen der wissenschaftlichen Universitätstheologie und der Lehramtstheologie sei „nahezu abgebrochen“. Katholische Theologinnen und Theologen führten „weithin Sonderdebatten, an denen wir uns berauschen und mit denen wir vielleicht auch Leute auf Gemeindeebene begeistern können“, so Essen. „Aber das römische Lehramt interessiert das nicht.“
Essen: Bei erfolglosem Reformdialog Enttäuschung maßlos
Essen warnt vor einem möglichen Scheitern des laufenden Reformdialogs der katholischen Kirche in Deutschland. „Ich befürchte, dass die Enttäuschung maßlos sein wird, wenn der Synodale Weg nicht zu den erhofften Erfolgen kommen wird“, sagte Essen. Zwar habe der Synodale Weg drängende Probleme wie die Sexualmoral, die priesterliche Lebensform, Macht und Gewaltenteilung sowie die Rolle von Frauen in der Kirche auf die Tagesordnung gesetzt, so der Direktor des Instituts für Katholische Theologie an der Humboldt-Universität.
Viele dieser Themen seien jedoch bereits auf der Würzburger Synode von 1971 bis 1975 behandelt worden, ohne dass es zu weitreichenden Reformen geführt habe. „Vieles wurde in Rom blockiert und auf die lange Bank geschoben“, kritisierte Essen. Anders als bei der Würzburger Synode gebe es zudem derzeit, „soweit sichtbar, keine wirkliche Aufbruchsstimmung“ wie nach dem 1965 beendeten Zweiten Vatikanischen Konzil. „Heute ist es geradezu umgekehrt“, betonte der Professor für Systematische Theologie. „Die Kirche ist in einer tiefen Glaubwürdigkeitskrise und vom Zerfall ihrer Legitimation bedroht.“
Strukturelles Problem
Essen wies auch auf ein „strukturelles Problem“ des Reformdialogs hin. „Um frei und offen über alles in der Kirche reden und entscheiden zu können, hat er sich eine Grundordnung gegeben, die außerhalb des geltenden Kirchenrechts angesiedelt ist“, erklärte er. „Eine kirchenrechtliche Ordnung wie eine Synode wäre aber die Voraussetzung dafür, dass es eine Chance gibt, die Beschlüsse mit Bindungswirkung auch umzusetzen.“
Es werde dann von der Bereitschaft jedes einzelnen Ortsbischofs abhängen, ob er bereit sei, sich die Beschlüsse zu eigen zu machen und in seinem Bistum umzusetzen, betonte Essen. „Und es wird an den Bischöfen hängen, wie energisch sie in ‚Rom‘ aufzutreten bereit sind, um diese dort vorzutragen und sich Gehör zu verschaffen.“