Studie über Kindesmissbrauch in linksliberalen Gruppierungen

Von einer „Wucht an Quellen“ spricht der Autor einer Studie über pädosexuelle Netzwerke in der linksalternativen Szene Berlins: Gruppen hätten dort teilweise bis Anfang 2000 für eine Entkriminalisierung gekämpft.

Berlin – Von einer „Wucht an Quellen“ spricht der Autor einer Studie über pädosexuelle Netzwerke in der linksalternativen Szene Berlins: Gruppen hätten dort teilweise bis Anfang 2000 für eine Entkriminalisierung gekämpft.Wer den Namen „Christiane F.“ hört – gerade wurde das Buch neu verfilmt -, verbindet damit die Drogenprobleme im West-Berlin vor allem der 1970er Jahre. Dass darin auch der Missbrauch von Kindern eine große Rolle spielt, wird dagegen selten thematisiert.

Symposium zum Thema „Sexueller Missbrauch und pädosexuelle Netzwerken“

 Bahnhof Zoo sei damals ein trauriger „Sammelpunkt kindlicher Seelen“ gewesen, so erzählt es Ingo Fock. Es habe dort viel Gewalt und Kinderprostitution gegeben. Fock, inzwischen Mitte 50, war dort selbst als Junge betroffen und gründete vor rund 20 Jahren den „Verein gegen Missbrauch“. Für die Kinder, die sich dort aufhielten, sei der Bahnhof Zoo dennoch eine zweite Heimat gewesen, weil sie fast ausnahmslos aus schwierigen familiären Verhältnissen kamen, so Fock. Auch die damalige linksliberale Szene habe das ausgenutzt. Ein Symposium zum Thema „Sexueller Missbrauch und pädosexuelle Netzwerken“ befasste sich am Dienstag in Berlin mit den Ergebnissen einer Vorstudie, die auch auf der Basis seiner und anderer Schilderungen entstand und die die Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs in Auftrag gegeben hatte.

In der Untersuchung, die erstmals im vergangenen Februar vorgestellt wurde, prüfen die Wissenschaftler Iris Hax und Sven Reiß die Vernetzungen pädosexueller Gruppen aus diesem Berliner Milieu in der Zeit der 1970er Jahre bis Anfang 2000. Vor allem im Archiv des Schwulen Museums in Berlin, das sehr kooperativ gewesen sei, stießen sie nach eigenen Worten in teilweise noch nicht gesichteten Nachlässen auf Zeugnisse von Kindesmissbrauch. Reiß spricht von einer „Wucht an Quellen“. Sie machten sichtbar, wie sich pädosexuelle Akteure an homosexuelle Gruppierungen angeschlossen und diese für ihre Interessen genutzt hätten, so die Vorsitzende der Aufarbeitungskommission, Sabine Andresen. Um ihre Positionen zu legitimieren, suchten Aktivisten dieser Gruppierungen ihre Bündnispartner demnach nicht nur in den neuen sozialen Bewegungen oder bei linksliberalen politischen Parteien, sondern auch in der Wissenschaft, vor allem in der Sexualwissenschaft, der Erziehungswissenschaft, aber auch in der Soziologie und der Psychologie.

Einblick in die Lebenswelt der Gruppierungen

Schwerpunkt der Vorstudie sind die Berliner „Kinderrechtegruppen und -projekte“ sowie die linksautonome Szene. Die sogenannten Kinderrechtegruppen suchten laut Erkenntnissen der Autoren gezielt Kontakt zu Kindern, die aus Heimen oder von zu Hause weggelaufen waren und auf der Straße lebten. Die Unterstützung für sie wurde demnach als „Befreiung“ des Kindes von kleinbürgerlichen Familien- und Unterdrückungsverhältnissen deklariert. Quellen belegten zudem, dass Teile der linksautonomen Hausbesetzerszene bis in die 1990er Jahre pädosexuelle Menschen akzeptierten. Zudem gab es laut Studie auch Hinweise auf eine kommerzielle sexuelle Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen.

Über das Ausmaß könne die Untersuchung noch keine Ergebnisse liefern, so Andresen. Sie gebe aber eine erste Übersicht über Vernetzungen und Debatten der damaligen Akteure und stelle deren Vorgehensweise und Rechtfertigungsstrategien dar. Viele Gruppen kämpften für eine Entkriminalisierung von Sex mit Minderjährigen. Die Zeugnisse, die teilweise von strafrechtlicher Relevanz waren und der Polizei übergeben wurden, geben einen tiefen Einblick in die Lebenswelt dieser Gruppierungen, wie Reiß berichtet. Sie hätten sich etwa in der Schwulenbewegung als „Minderheit einer Minderheit“ stilisiert, und es habe Verflechtungen etwa mit schwulen Buchläden, mit Verlagen, aber auch mit der Aids-Hilfe gegeben.

Nur ein Beginn einer bundesweiten Aufarbeitung

Andresen betonte bei dem Symposium, dass die Studie lediglich der Beginn einer bundesweiten Aufarbeitung sein könne. Wichtig sei dabei auch ein „klaren politischer Auftrag, dass wir es als Gesellschaft wirklich wissen wollen“. Der Archivleiter des Schwulen Museums in Berlin, Peter Rehbarg, betonte, Bestandteil der Aufarbeitung müsse es auch sein, dass die queere Bewegung selbstkritisch auf ihre eigene Geschichte sehe. Diese sei eben nicht nur eine Befreiungsgeschichte. Auch die sexuelle Gewalt gegenüber Kinder und Jugendlichen sei Teil dieser Geschichte. Dem müsse endlich Rechnung getragen werden.

Von Birgit Wilke (KNA)

Pädosexuelle Netzwerke