Immer noch sorgen die Funde von Kinderleichen und Gräbern an zwei ehemals kirchlichen Umerziehungsheimen für Indigene in Kanada für Schlagzeilen. Nun soll es ein Treffen im Vatikan geben.
Vancouver – Eine besondere Reisegruppe wird sich zum Jahresende – sofern es die Corona-Lage erlaubt – von Kanada auf den Weg Richtung Europa machen. Vom 17. bis 20. Dezember werden Vertreter der First Nations, der Inuit und der Metis, das sind Nachfahren europäischer Händler und indigener Frauen, im Vatikan erwartet. Sie wollen Papst Franziskus vom Leben ihrer Gemeinschaften erzählen. Und von den historischen Traumata, die sie belasten, wie die kanadischen Bischöfe am Dienstag (Ortszeit) bekanntgaben.
Pläne für ein solches Treffen gibt es demnach bereits seit mehr als zwei Jahren. Durch die jüngsten Entdeckungen an zwei ehemaligen katholischen Heimschulen hat die Begegnung eine neue Dringlichkeit erhalten. Vor rund vier Wochen hatte Rosanne Casimir, Leiterin der indigenen Gemeinschaft Tk’emlups te Secwepemc, bekanntgegeben, dass auf dem Gelände eines früheren katholischen Internats nahe der Kleinstadt Kamloops im Westen des Landes die Überreste von 215 Kinderleichen gefunden worden seien.
Die Einrichtung war eine von 139 kanadischen „Resident Schools“, in denen indigene Mädchen und Jungen zumeist zwangsweise untergebracht wurden, um sie im Auftrag des kanadischen Staates an die „christliche Zivilisation“ heranzuführen. Kamloops scheint kein Einzelfall gewesen zu sein. Auf dem Grundstück der ehemaligen Marieval Indian Residential School in der zentralkanadischen Provinz Saskatchewan fanden Ermittler die Überreste von Verstorbenen in 751 nicht markierten Gräbern.
Wie das Umerziehungsheim Kamloops wurde auch die Einrichtung in Marieval vom Orden der Oblaten der Unbefleckten Jungfrau Maria betrieben. Die Gemeinschaft kündigte inzwischen an, alle Aktenbestände zu diesen und weiteren 46 Schulen öffnen zu wollen. Doch viele Angehörige der First Nations haben inzwischen jedes Vertrauen in die Kirche verloren, wie die Juristin Mary Ellen Turpel-Lafond erläutert. Seit den 1990er Jahren läuft die Aufarbeitung. Aber, so sagt die Leiterin des Dialogzentrums für die Geschichte der „Residential Schools“ an der University of British Columbia in Vancouver: „Die Wahrheit wurde nicht vollständig erzählt und eine Versöhnung ist noch Generationen entfernt.“
Weiterhin gebe es große Mängel, was die Kooperationsbereitschaft mancher katholischer Einrichtungen anbelange, beklagt Turpel-Lafond. Viel zu oft hätten sich Täter oder Institutionen bislang aus der Verantwortung stehlen können, was den Überlebenden neuen Schmerz zugefügt habe. „Viele Indigene sehen den Kolonialismus der Siedler und all das, was im Zusammenhang mit ihrer eigenen Vertreibung und dem Missbrauch ihrer Kinder geschah, als Völkermord an.“
Zorn, Wut und Enttäuschung sind offenbar groß. Vier Kirchen in Reservaten der Indigenen gingen in Flammen auf. Türen und Wände der Kathedrale St. Paul in Saskatoon bemalten Aktivisten mit roten Händen und der Aufschrift „Wir waren Kinder“. Kanadas Premierminister Justin Trudeau wiederholte seine Aufforderung an Papst Franziskus zu einer Entschuldigung. In einem persönlichen Gespräch mit dem Kirchenoberhaupt habe er betont, dass der Papst Kanada besuchen und sich vor Ort bei indigenen Kanadiern entschuldigen solle.
Einen vergleichbaren Schritt auf politischer Ebene vollzog Trudeaus Vorgänger Stephen Harper im Jahr 2008. Denn zur historischen Wahrheit gehört auch, dass der Staat das System der „Residential Schools“ mit aufbaute und finanzierte. Behörden sahen darüber hinweg, wenn Schülerinnen und Schüler in den oft überbelegten und schlecht ausgestatteten Einrichtungen an Krankheiten wie der Grippe starben oder an den Folgen von Unterernährung, Gewalt und Misshandlung.
Immer wieder hätten Indigene von verschwundenen Kindern und anonymen Gräbern berichtet, sagt Mary Ellen Turpel-Lafond. „Aber ihre Zeugnisse wurden ignoriert, verharmlost oder lächerlich gemacht.“ Vielleicht trägt die anvisierte Begegnung mit Papst Franziskus dazu bei, dies zu ändern. Es wäre ein schwacher Trost für die heute noch lebenden schätzungsweise 70.000 „Survivors“, die als Kinder in einer der „Residential Schools“ waren.