Wie es zum Pogrom im polnischen Kielce kommen konnte, ist auch 75 Jahre später nicht vollständig geklärt. Das Massaker ist das schlimmste Pogrom der Nachkriegszeit und Beginn einer Massenabwanderung.
Montag, 1. Juli 1946. Per Anhalter macht sich Henryk Blaszczyk auf den Weg in ein Nachbardorf, Freunde treffen und ein paar Kirschen pflücken. Seinen Eltern in Kielce sagt der Neunjährige nichts. Was nach dem Beginn eines Kinderbuchs über die wunderbaren Sommerabenteuer wilder Jungs klingt, endete tödlich für mindestens 42 Juden. Weitere 40 wurden teils schwer verletzt. Das Pogrom von Kielce am 4. Juli 1946 zählt zu den schlimmsten antijüdischen Pogromen nach dem Zweiten Weltkrieg. Für viele Holocaust-Überlebende wurde es zum Anlass, Polen für immer zu verlassen.
Henryk tauchte zwei Tage nach seinem Verschwinden bei seinen Eltern wieder auf, „bepackt mit Kirschen und Entschuldigungen“, wie die Jerusalemer Holocaustgedenkstätte Yad Vashem die Ereignisse des schicksalsreichen Juli 1946 rekonstruiert. Der Junge behauptete, er sei verschleppt worden und habe zwei Tage im Keller des sogenannten Judenhauses ausharren müssen. Die geschilderten Vorkommnisse schienen aufgrund der wechselhaften Geschichte der Juden in Kielce plausibel.
Pogrom in Kielce war ein mehrstündiger Massaker
1833 siedelten sich erstmals Juden in der Kleinstadt an, wurden 1847 kurzfristig der Stadt verwiesen, um es nach der Jahrhundertwende auf eine stattliche Gemeindegröße von gut 11.000 zu bringen. Ein Pogrom im November 1918 forderte vier Todesopfer und zahlreiche Verletzte unter den Juden Kielces, bei einem Massaker durch deutsche Polizeieinheiten im Mai 1943 werden 15 jüdische Kinder getötet. In den 20er Jahren waren gut ein Drittel der Kielcer Juden, 1945 kein einziger mehr. Jene knapp 200, die nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in ihre alte Heimat zurückkehrten, kamen vor allem im sogenannten Judenhaus in der Planty-Straße 7 unter.
In den Keller ebendieses Hauses sei sein Sohn Henryk verschleppt worden, meldete Vater Blaszcyk nach der Rückkehr seines Sohnes der Polizei. Schnell machte die altbekannte Legende über angeblich geplante jüdische Ritualmorde an christlichen Kindern die Runde. Wann immer irgendwo ein Kind vermisst wurde, kam dieser Vorwurf auf – und hielt sich offenbar länger in den Straßen als die Abwesenheit des Kindes. Ebenso schnell zeigten sich Unstimmigkeiten, die Vater und Sohn der Polizei vorgetragen hatten – das Judenhaus etwa hatte keinen Keller -, doch auf der Straße versammelte sich bereits der wütende Mob.
Was folgt ist ein mehrstündiges Massaker, bei dem Polizei, Milizen und nichtjüdische Bewohner Hand in Hand arbeiteten. Sicherheitskräfte zerrten jüdische Bewohner aus dem Haus und überließen sie dem Mob. „Menschen begannen mit allem zu schlagen, was ihnen zur Verfügung stand. Die bewaffneten Soldaten reagierten nicht“, zitiert Yad Vashem den Augenzeugenbericht eines Polizisten.
„Blutgetränkte Papiere lagen auf dem Boden verstreut“
Am Mittag gelang es der Armee, die wütende Masse zurückzudrängen, doch nur für den Moment. Hunderte Arbeiter eines nahe gelegenen Stahlwerks nutzten die Mittagspause, um den Mob mit Brecheisen und Steinen bewaffnet zu verstärken. Versuche einzelner Priester, die Menge zum Ablassen von den Juden zu bringen, blieben erfolglos. Erst aus Warschau beorderte Soldaten beendeten das Massaker am frühen Nachmittag, verhängten eine Ausgangssperre über die Stadt, in deren Straßen randalierende Polen Jagd auf Juden machten.
„Der Anblick des großen, modernen Appartmenthauses in der Planty Street war das Äußerste an rücksichtsloser Verwüstung“, erinnerte sich ein Augenzeuge an den Tag danach. „Blutgetränkte Papiere lagen auf dem Boden verstreut – klebrig vor Blut, sie klebten an der Erde, obwohl ein starker Wind durch den Hof wehte.“ Einige habe er aufgehoben: Briefe der Toten, adressiert an Verwandte in Palästina, Kanada, den Vereinigten Staaten.
Am Ende wurden zwölf Täter vor Gericht gestellt, neun von ihnen zum Tode verurteilt und hingerichtet. Viele Fragen zu den Vorgängen und ihren Hintergründen bleiben bis heute offen. Für die Juden in Polen aber, die den Holocaust überlebt hatten, waren Kielce und weitere Pogrome eine Warnung. Zu Zehntausenden flohen sie nach Westdeutschland und Österreich.
Auch Kirchenvertreter äußern Verschwörungsmythen
Grün und barock wirkt sie, die Stadt ungefähr auf halber Strecke zwischen Krakau und Warschau. Knapp 200.000 Menschen leben heute in Kielce, das sich unter anderem einer Städtepartnerschaft mit dem zentralisraelischen Ramle rühmt. Über die unrühmliche Geschichte schweigt man bis heute lieber. Einer, der sich ausführlich mit dem Kielcer Pogrom von 1946 befasst hat, ist der 1969 von Polen in die USA emigrierte jüdische Historiker Jan Tomasz Gross. Sein 2006 erschienenes Buch „Die Angst“ sorgte mit seiner radikalen Darstellung in seinem Heimatland für scharfe Kritik.
Zwar hatte sich Ministerpräsident Wlodzmimierz Cimoszewicz 1996 für die Morde an Juden in Kielce entschuldigt. Bis heute äußern aber immer wieder polnische Vertreter Zweifel an der Identität der Täter von Kielce oder verbreiten Verschwörungsmythen, wonach Kommunisten und Geheimpolizei das Massaker initiiert hätten – eine Meinung, die in der Vergangenheit auch von ranghohen polnischen Kirchenvertretern geäußert wurde.
Doch es gibt auch andere Stimmen. „Jeder von uns hat einen taffen Moment in seiner Vergangenheit. Entweder wurde uns Schaden zugefügt, oder wir haben Schaden zugefügt. Bis wir es benennen, ziehen wir die Vergangenheit hinter uns her“, sagt Bogdan Bialek. Den Kampf des polnischen Katholiken, Journalisten und Psychologen gegen Vorurteile und das Schweigen erzählt der preisgekrönte Dokumentarfilm „Bogdans Reise“ (2016). Von den Gespenstern der Vergangenheit könne man sich erst dann befreien, „wenn wir lernen, normal darüber zu reden“.