Er ist Vorreiter der Tierethik und ein äußerst umstrittener Philosoph mit Blick auf seine Haltung zu Pränataldiagnostik und Abtreibungen. Der streitbare Australier Peter Singer wird am Dienstag 75 Jahre alt.
Er ist Vorreiter der Tierethik und ein äußerst umstrittener Philosoph mit Blick auf seine Haltung zu Pränataldiagnostik und Abtreibungen. Der streitbare Australier Peter Singer wird am Dienstag 75 Jahre alt. Auch in der Corona-Pandemie sorgte er für Aufsehen. Leben zu retten, könne nicht das einzige Ziel sein, erklärte Peter Singer im Frühjahr – zu einem Zeitpunkt also, als die Pandemie in Ländern wie Indien erst an Fahrt aufnahm.
Der Umstrittener Ethiker Peter Singer ist Vorreiter für Tierrechte
Es war und wird nicht das letzte Mal sein, dass Singers Positionen für Furore sorgen. Der Vorreiter für Tierrechte gilt zugleich als Abtreibungsbefürworter. Embryos hätten kein Recht auf Leben, lautet eine seiner wiederholt geäußerten Thesen, die Behindertenverbände und Kirchenvertreter für menschenverachtend und gefährlich halten. Am Dienstag wird der umstrittene Ethiker, der unter anderem an der renommierten Princeton University in den USA lehrte, 75 Jahre alt.
Singer wurde 1946 in Melbourne geboren. Seine jüdischen Eltern waren vor den Nationalsozialisten aus Wien nach Australien geflohen. Seinen Abschluss in Philosophie machte Singer in seiner Heimat, für seine Doktorarbeit ging er nach England an die Oxford Universität. Dort folgte eine mehrjährige Anstellung als Wissenschaftler. Später zog er weiter nach New York und von dort zurück nach Melbourne.
Ist der Mensch die „Krönung der Schöpfung“?
Singer ist ein Vertreter des Utilitarismus, genauer des Präferenzutilitarismus. Ziel seiner Moralphilosophie ist es, mit einer Handlung oder einer Norm allen davon betroffenen Menschen möglichst viel Freude und Gutes zu verschaffen. Die Grundzüge des Utilitarismus, der sich vom Englischen „utility“ („Nutzen“ oder „Nützlichkeit“) ableitet, finden sich bei Jeremy Bentham (1748-1832) und John Stuart Mill (1806-1873).
Ein besonderer Aspekt des Präferenzutilitarismus ist das Abwägen aller Interessen. Das persönliche Interesse ist dabei laut Singer per se nicht mehr wert als das Interesse eines anderen Menschen oder auch eines Tieres. Mit seinem Buch „Die Befreiung der Tiere“ (1975) wurde Singer zum Vorreiter der Tierrechtebewegung – eine Haltung, für die er mehrfach ausgezeichnet wurde. Die Idee, dass der Mensch dem Tier überlegen sei, entspringe der falschen christlichen Annahme, der Mensch sei die „Krönung der Schöpfung“, so Singer. Normen und Werte sollten sich deswegen auch nicht auf kirchliche Dogmen stützen.
Peter Singer steht mit seiner Haltung im Widerspruch zur katholischen Morallehre
Das Abwägen der Interessen und die Maximierung des Nutzens überträgt der Philosoph auch auf Arme und Bedürftige. In „The Expanding Circle“ (1981) und in späteren Werken wie „Leben retten: Wie sich Armut abschaffen lässt – und warum wir es nicht tun“ (2010) oder „Effektiver Altruismus“ (2016) spricht sich Singer beispielsweise für eine gerechtere Verteilung der weltweiten Finanzmittel aus. Dabei kann aus Sicht des Moralphilosophen jeder zum Beispiel durch systematisches Spenden helfen – ohne Überforderung oder große Opfer.
Doch Singers Utilitarismus bezieht sich nicht allein auf Tierrechte oder die Armutsbekämpfung. Auch in der Medizinethik wendet der Philosoph das utilitaristische Prinzip konsequent an. Seine Haltung in diesem Bereich ist äußerst umstritten und widerspricht deutlich der katholischen Morallehre.
Größtmöglicher Nutzen für alle Beteiligten?
Bereits in „Praktische Ethik“ (1979) vertritt Singer die Position, dass Eltern – im Sinne des größtmöglichen Nutzen für alle Beteiligten – das Recht und die Möglichkeit haben sollten, Embryos mit schweren Behinderungen abzutreiben, da sie keine Selbstwahrnehmung hätten und daher keine „Personen“ seien. Auch hält Singer es in gewissen Fällen für gerechtfertigt, wenn Eltern ihre nicht lebensfähigen Neugeborenen töten. „Ein Frühgeborenes im Alter von 23 Wochen hat keinen anderen moralischen Status als ein Kind mit 25 Wochen in der Gebärmutter“, sagte Singer in einem Interview. Ob man die Beatmungsmaschine abschalte oder eine tödliche Injektion verabreiche, sei moralisch gesehen unerheblich.
Ähnlich konsequent formuliert der Philosoph seine Haltung zur Sterbehilfe. „Wer sein Leben nicht mehr für lebenswert hält und einen vernünftigen Grund hat zu glauben, dass sich das nicht ändert, sollte Zugang (zu einem Sterbemittel) bekommen“, sagte Singer. Schließlich könne jemand sich als Belastung für die Familie empfinden und auch die Familie belasten; da sei es nicht unbedingt unvernünftig, das eigene Leben zu beenden.
Von Anna Mertens und Paula Konersmann (KNA)
Tierethik stößt auf immer breiteres Interesse – Aufwind für eine noch junge Disziplin
Bis in die 1970er Jahre fand das Thema kaum Beachtung. Das bahnbrechende Sachbuch „Die Befreiung der Tiere“ lenkte den Blick auf die Frage nach dem Wert von Tieren. Heute wird diese Frage breit diskutiert.
Schon auf der ersten Seite zieht sich beim Lesen der Magen zusammen: Die französische Philosophin Corine Pelluchon listet in ihrem „Manifest für die Tiere“ auf, wo Tiere nicht artgerecht behandelt, gequält und getötet werden. Von Tierversuchen über überfüllte Tierheime bis zu Schlachthäusern: „Überall dort herrschen Unglück und Ungerechtigkeit.“ So wie die Menschheit Tiere behandle, drohe sie ihre eigene Seele zu verlieren, schreibt Pelluchon.
Die Sensibilität für das Thema wächst – in der Bevölkerung und in der Wissenschaft. Das betrifft nicht nur die viel diskutierten Themen Fleischkonsum und Nutztierhaltung. Forscher haben etwa Saugroboter entwickelt, die Insekten erkennen und ihnen ausweichen. Auch bei autonomen Fahrzeugen wird über eine derartige Technologie diskutiert.
Verantwortung nicht allein beim Konsumenten abladen
Genau solch eine breite Bewegung brauche es, mahnt die Philosophin Mara-Daria Cojocaru. Die Verantwortung dürfe nicht allein beim Konsumenten abgeladen werden, der beim Einkaufen sämtliche Probleme „von Kinderarbeit über Tierleid bis zum Klimawandel“ lösen solle, erklärte sie kürzlich laut einer Mitteilung der Hochschule für Philosophie der Jesuiten. Um echte Alternativen zu entwickeln, brauche es einen Paradigmenwechsel – in der Agrarindustrie ebenso wie in den biomedizinischen Wissenschaften.
Ein Grundlagenwerk der Tierethik ist bis heute das Buch „Die Befreiung der Tiere“ (1975) von Peter Singer. Seine Kernthese: Das persönliche Interesse ist per se nicht mehr wert als das Interesse eines anderen Menschen oder auch eines Tieres. Die Idee, dass der Mensch dem Tier überlegen sei, entspringe einer falschen christlichen Annahme, wonach der Mensch die „Krönung der Schöpfung“ sei, so Singer. Normen und Werte sollten sich deswegen auch nicht auf kirchliche Dogmen stützen. Der Vorreiter für Tierrechte gilt zugleich als Abtreibungsbefürworter; Behindertenverbände und Kirchenvertreter halten seine Thesen für menschenverachtend und gefährlich.
Peter Singers preisgekrönte Haltung zu Tierrechten wird weitergedacht
Doch seine mehrfach preisgekrönte Haltung zu Tierrechten wird weitergedacht. So betont die US-Philosophin Christine M. Korsgaard zwar die Unterschiede, die es zwischen Mensch und Tier gibt. Sie erneuert jedoch zugleich die Forderung nach dem Abschied von der Vorstellung, dass Menschen wichtiger seien als Tiere: Wer etwa der eigenen Mutter wichtiger sei als andere, bekomme dadurch im Allgemeinen keinen „irgendwie unbedingteren Wert“.
Insofern lasse sich die Nutzung und das Leid von Tieren nicht damit rechtfertigen, dass der Mensch womöglich Gott wichtiger sei, so Korsgaard: „Gäbe es statt eines Gottes einen bösen Dämon, der Menschen als Futter für Krokodile erschaffen hätte, so wäre es für uns oder von unserem Standpunkt aus dennoch nichts Gutes, vom Krokodil gefressen zu werden.“
Bewegung in der Theologie
Auch in der Theologie gibt es Bewegung. So verweist die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) in einer aktuellen Denkschrift darauf, dass laut biblischer Schöpfungserzählung die menschlichen Verfügungsrechte beim Leben der Tiere enden. Die katholische Theologin Simone Horstmann hofft, dass sich die Haltung der Kirche zu Tieren verändern wird. Es handle sich um eine Zukunftsfrage, sagte sie kürzlich der „Zeit“-Beilage „Christ & Welt“: „Auch an ihr wird sich zeigen, wie die Zukunft der Theologie und des Christentums aussehen wird.“
Ein Großteil dessen, was Tiere erleiden müssten, sei nicht mehr notwendig, betonte Horstmann im Hinblick etwa auf Tierversuche. Und weiter: „Es muss Aufgabe der Theologie sein, hellhörig zu werden, wenn Gewalt und Tod zur Notwendigkeit verklärt werden, egal, um welche Lebewesen es sich handelt.“
Theologie mitverantwortlich für die ökologische Katastrophe?
Ähnlich sieht es der Theologe Rainer Hagencord. Auf die Institution Kirche setzt er jedoch wenig Hoffnung. Eine Theologie, „die die Natur über Jahrhunderte als hübsche Kulisse oder als Ressourcenlager gesehen hat und die Tiere weiterhin zu seelenlosen Automaten degradiert“, sieht er als mitverantwortlich für die ökologische Katastrophe. Auch Horstmann kritisiert die traditionelle Theologie, in deren Vorstellung vom Himmel die Tiere keinen Platz haben. „Es möchte doch niemand in den Himmel kommen, wenn befreundete Tiere dort nicht auf uns warten.“
Dem dürften sich viele Tierfreunde anschließen. Horstmann sieht aber auch ein handfestes wissenschaftliches Problem: „Wenn Tiere am Ende nicht zählen, dann fällt es mir als Theologin schwer, ausgehend von dieser Tradition Argumente zu finden, warum Tiere überhaupt im irdischen Leben eine Rolle spielen sollen.“ So finde die Religion zu selten eine Sprache „dafür, dass das Leben anderer Lebewesen Bedeutung hat. An der Wirklichkeit der Schlachthöfe erschreckt doch vor allem, mit welcher gnadenlosen Selbstverständlichkeit dort im Sekundentakt getötet wird, als wäre es das Normalste der Welt.“
Welt der „sogenannten Nutztiere“ sei „ein permanenter Albtraum“
Die Theologin wirbt für ein Umdenken. So könne man sich fragen: „Spricht denn etwas dafür, Kühe permanent schwanger zu halten und ihnen die Kinder wegzunehmen, die dann für ein paar Euro wie Abfallprodukte verscherbelt werden?“ Die Welt der „sogenannten Nutztiere“ sei „ein permanenter Albtraum, ein Leben, das fast nur aus Angst, Dunkelheit, Deprivation und Qual besteht. Das kann durch keinen Latte-macchiato-Genuss gerechtfertigt werden.“
Horstmann beobachtet, dass „ein gewisses Befremden“ gegenüber der Tiertheologie nachlasse. Hagencord freut sich nach eigenen Worten über diese Entwicklung. Er sagt aber auch: „Das ist viel zu spät.“ Die Kirche habe es versäumt, das Thema Ökologie in den Mittelpunkt zu rücken. „Wenn wir uns die Gottes- und Sinnfrage stellen, müssen wir die Tiere und die Umwelt in den Blick nehmen, statt ihnen den Rücken zuzukehren. Die aktuelle Ausrottungswelle ist in ihren Ausmaßen so groß wie beim Aussterben der Dinosaurier“, mahnt Hagencord.
„Retten, was noch zu retten ist“
Daher müssten junge Menschen, die zunehmend in der digitalen Welt zu Hause seien, auch die natürliche Umwelt kennenlernen, fordert der Theologe. Dass die Natur die „eigentliche Heimat“ des Menschen sei, hätten viele offenbar vergessen. Die Corona-Pandemie könnte, hofft Hagencord, zu einem Umdenken beitragen: „Wir sollten dieses unsägliche Ereignis nutzen, um zu retten, was noch zu retten ist.“
Von Paula Konersmann (KNA)