Der Vorsitzende der Ständigen Impfkommission (Stiko), Thomas Mertens, hält den Druck aus der Politik auf sein Gremium für „wenig hilfreich“.
München/Berlin – Der Vorsitzende der Ständigen Impfkommission (Stiko), Thomas Mertens, hält den Druck aus der Politik auf sein Gremium für „wenig hilfreich“. Im Interview der „Süddeutschen Zeitung“ (Dienstag) sagte er zu Forderungen, eine Impfempfehlung für Kinder ab 12 Jahren zu geben: „Ich bin besorgt, dass es sich um eine Stellvertreterdiskussion handelt, die von unserem eigentlichen Problem wegführt. Es wäre entscheidend, mit dem reichlich verfügbaren Impfstoff die 18- bis 59-Jährigen vollständig zu impfen.“
Es sei „sehr klar“, so Mertens weiter, dass davon der Verlauf der „nächsten Welle“ abhänge und nur sehr marginal von der Impfung der Kinder. Viel wichtiger wäre es aus seiner Sicht, „den Maßnahmenkatalog der S3-Leitlinie, die von sehr vielen wissenschaftlichen Fachgesellschaften getragen ist, an den Schulen umzusetzen, um den Schulunterricht sicherzustellen.“
Der Stiko-Chef ergänzte, man müsse außerdem bedenken, dass etwa 9,1 Millionen Kinder unter zwölf Jahren nicht geimpft werden könnten, also alle Kinder in Kinderkrippen, Kindergärten, Grundschulen und den ersten Jahren der weiterführenden Schulen: „Umso wichtiger ist es, den Maßnahmenkatalog zur Sicherung der Schulen umzusetzen.“
Zur Entscheidung der Gesundheitsministerkonferenz, Kindern ab zwölf Jahren ein Impfangebot zu machen, erklärte Mertens, dies sei „doch keine grundsätzliche Änderung der derzeitigen Situation. Die Impfung der Kinder in dieser Altersgruppe ist auch jetzt möglich. Die Politik kann das Angebot im Sinne einer allgemeinen Vorsorgemaßnahme durchaus machen, die ja auch nicht evidenzbasiert sein muss.“
Mertens versicherte weiter, dass die Stiko „sich ihrer Verantwortung sehr bewusst ist und mit Hochdruck an einer aktualisierten, evidenzbasierten Empfehlung arbeitet, ohne dass ich das Ergebnis heute vorwegnehmen kann“. Er hoffe aber, „dass wir in den nächsten zehn Tagen eine aktualisierte Empfehlung fertigstellen können“.
Insgesamt empfehle er in dieser Zeit „mehr ruhige Aktivität, weniger allgemeine Aufgeregtheit und Hektik mit fraglichem Sinn und Nutzen und mehr Rationalität bei den Vorbereitungen, Entscheidungen und Umsetzungen von sinnvollen Maßnahmen“, so Mertens.
Spahn: Impfangebot ab 12 kein Widerspruch zu Stiko-Empfehlung
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) hat die Entscheidung von Bund und Ländern verteidigt, allen ab zwölf Jahren eine Corona-Impfung anzubieten. Er betonte am Dienstag im rbb-Inforadio, die Impfung bleibe freiwillig. Es gebe dabei auch keinen Widerspruch zur Ständigen Impfkommission (Stiko), wie er jetzt konstruiert werde, so Spahn weiter. Die Entscheidung stehe „durchaus im Einklang mit der Stiko“. Diese habe zwar keine Impfempfehlung für Kinder ab 12 gegeben, diese aber immer als möglich bezeichnet. „Wer will, kann sich impfen lassen, keiner muss“, betonte der Minister: „Das ist kein Gegensatz, sondern wir sind da im Einklang miteinander, das finde ich noch einmal wichtig.“
Kinder über zwölf würden auch jetzt schon geimpft, ergänzte Spahn: „Es sind schon über 900.000 Kinder und Jugendliche von 12 bis 17 Jahren, das sind etwa 20 Prozent dieser Altersgruppe, mindestens einmal geimpft, auf eigenen Wunsch.“ Das Impfen bei Kindern und Jugendlichen sei auch ein emotionales Thema, das in vielen Familien diskutiert werde, so der Politiker weiter: „Deswegen ist uns ja sehr, sehr wichtig: Es geht ausdrücklich nicht darum, Druck zu machen. Es geht darum, dass wir denjenigen, die geimpft werden wollen, auch bei den Kindern und Jugendlichen, gemeinsam mit ihren Eltern die Möglichkeit auch geben.“
Lob und Kritik für neue Beschlüsse zu Corona-Impfungen
Die Gesundheitsministerkonferenz hat für bestimmte Bevölkerungsgruppen ab September eine Auffrischung der Corona-Impfung beschlossen. Dies solle „im Sinne einer gesundheitlichen Vorsorge“ in Pflegeeinrichtungen, Einrichtungen der Eingliederungshilfe und weiteren Einrichtungen mit verletzlichen Gruppen geschehen, wie das Gremium am Montagabend in Berlin mitteilte. Eine Auffrischimpfung wird demnach „in der Regel mindestens sechs Monate nach Abschluss der ersten Impfserie“ angeboten.
Weiter heißt es: „Patientinnen und Patienten mit Immunschwäche oder Immunsuppression sowie Pflegebedürftige und Höchstbetagte in ihrer eigenen Häuslichkeit sollen durch ihre behandelnden Ärztinnen und Ärzte eine Auffrischimpfung angeboten bekommen.“ Studiendaten zeigten bisher, dass insbesondere diese Gruppen profitieren könnten.
Die Gesundheitsminister und -senatoren beschlossen zudem, dass alle Bundesländer nunmehr Impfungen für 12- bis 17-Jährige auch in Impfzentren oder mit „anderen niedrigschwelligen Angeboten“ anbieten. Zudem könnten die Kinder und Jugendlichen durch die niedergelassenen Ärzte und im Rahmen der Impfung von Angehörigen der Beschäftigten durch Betriebsärzte geimpft werden.
Möglichkeit einer Auffrischimpfung im September
Für junge Menschen in Universitäten und Berufsschulen machen die Länder laut Beschluss „strukturierte, niedrigschwellige Angebote oder solche in Kooperation mit den Impfzentren“. Darüber hinaus könnten Kindern niedrigschwellige Angebote gemacht werden. „Dies kann zu einem sichereren Start in den Lehr- und Lernbetrieb nach den Sommerferien beitragen. Die Angebote sind so auszugestalten, dass die Freiwilligkeit der Annahme dieses Impfangebotes nicht in Frage gestellt wird“, betont das Gremium.
„Mit der Möglichkeit einer Auffrischimpfung im September wollen wir die besonders gefährdeten Gruppen im Herbst und Winter bestmöglich schützen. Denn für sie ist das Risiko eines nachlassenden Impfschutzes am größten“, erklärte Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU).
Bundesfamilienministerin Christine Lambrecht (SPD) nannte den Beschluss einen wichtigen Schritt, „damit auch Kinder und Jugendliche bestmöglich vor einer Corona-Erkrankung geschützt werden können“. Eine hohe Impfquote sei wichtig, auch damit der Präsenzunterricht in den Schulen beibehalten werden könne. Die geplanten Auffrischungsimpfungen für bestimmte Gruppen nannte die Ministerin eine „gute und weitsichtige Entscheidung“. Es gehe darum, „alle Generationen gleichermaßen im Blick zu haben und gemeinsam entschieden zu handeln“.
Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte „Neubewertung“ der Stiko
Der Vorsitzende der Ständigen Impfkommission (Stiko), Thomas Mertens, reagiert offenbar gelassen auf Forderungen, das Gremium solle zügig empfehlen, Jugendliche ab zwölf Jahren gegen Corona impfen zu lassen. „Ich hoffe, dass wir das in den nächsten zehn Tagen schaffen“, sagte Mertens dem „Spiegel“. Er könne nicht vorausnehmen, was dann in der überarbeiteten Empfehlung stehen werde.
Der Präsident des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte, Thomas Fischbach forderte die Stiko in der „Rheinischen Post“ (Dienstag) auf, zeitnah eine „Neubewertung“ ihrer bisherigen Impfempfehlung vorzunehmen. „Es ist den Kindern und Jugendlichen und ihren Eltern nicht zuzumuten, dass der Streit um Freiheiten für Geimpfte und Ungeimpfte in die Klassenzimmer getragen wird.“
Der Deutsche Hausärzteverband dagegen übte Kritik: „Diese Diskussion unter Missachtung der Kompetenz der Ständigen Impfkommission kann eher zur Verunsicherung führen, als dass sie der Impfkampagne hilft“, sagte der Bundesvorsitzende Ulrich Weigeldt dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (Dienstag).