Botschafter der Ukraine kritisiert deutsche Erinnerungspolitik

Unmittelbar vor der Teilnahme von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier an der Gedenkveranstaltung für die ermordeten Juden von Babi Jar am Mittwoch in Kiew, hat der ukrainische Botschafter in Berlin, Andrij Melnyk, die deutsche Erinnerungspolitik kritisiert.
Unmittelbar vor der Teilnahme von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier an der Gedenkveranstaltung für die ermordeten Juden von Babi Jar am Mittwoch in Kiew, hat der ukrainische Botschafter in Berlin, Andrij Melnyk, die deutsche Erinnerungspolitik kritisiert.

–Foto: © Hnat Burma | Dreamstime.com

Unmittelbar vor der Teilnahme von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier an der Gedenkveranstaltung für die ermordeten Juden von Babi Jar am Mittwoch in Kiew, hat der ukrainische Botschafter in Berlin, Andrij Melnyk, die deutsche Erinnerungspolitik kritisiert. „Dass der Bundespräsident mit seinem Besuch die Opfer von Babi Jar in Kiew sowie die mindestens acht Millionen ukrainischen Kriegstoten in Korjukiwka würdigt, ist eine gute Geste. Sie ist allerdings nur ein erster Schritt auf dem sehr langen Weg zur historischen Aussöhnung zwischen der Ukraine und Deutschland“, sagte Melnyk dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (Dienstag).

Ukrainische Opfer von „Politik und Öffentlichkeit übersehen“

Die Ukraine zähle zu den am meisten betroffenen Nationen der schlimmsten Nazi-Verbrechen mit über fünf Millionen ermordeten Zivilisten, darunter 1,5 Millionen ukrainische Holocaust-Opfer, sagte Melnyk weiter. Der Botschafter kritisierte, sein Land sei nach wie vor fast komplett abwesend in der Topografie der deutschen Erinnerung: „Unsere enormen Opfer werden immer noch von der deutschen Politik und Öffentlichkeit übersehen.“ Von daher sei es kein Wunder, dass in der ukrainischen Gesellschaft ein starkes Gefühl von Ungerechtigkeit wachse, das der heutigen „gespaltenen Gedenkpolitik“ der Bundesrepublik entspringe.

In dem Städtchen Korjukiwka unweit der ukrainisch-belarussischen Grenze hatten im März 1943 SS-Sondereinheiten 6.700 ukrainische Männer, Frauen und Kinder erschossen. Das Blutbad wurde als „Strafaktion“ gegen in den Wäldern operierende Partisanen deklariert. Steinmeier wird am Mittwochvormittag zunächst Korjukiwka besuchen und dann am Abend an der zentralen Gedenkfeier von Babi Jar in Kiew teilnehmen. Dort waren am 29. und 30. September 1941 fast 34.000 ukrainische Juden Opfer von Massenerschießungen deutscher Spezialkommandos geworden. Die Leichen wurden in der „Altweiberschlucht“ (Babi Jar) am Stadtrand von Kiew verscharrt.

Melnyk kritisiert, dass die ukrainischen Opfer im Zweiten Weltkrieg unter den Opfern der Sowjetunion subsumiert würden. Seine Teilnahme an der zentralen Gedenkfeier anlässlich des 80. Jahrestages des deutschen Überfalls auf die UdSSR vom 22. Juni 1941 hatte er mit Blick auf das Deutsch-Russische Museum in Berlin als Ort der Gedenkfeier abgesagt.

Holocaust-Forscher für ausgewogenere deutsche Erinnerungskultur

Im Vorfeld des Besuchs von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in der Ukraine fordert der US-Historiker Timothy Snyder in der „Welt“ (Dienstag) mehr Solidarität der Deutschen mit der Ukraine und eine ausgewogenere Erinnerungskultur im Bezug auf den Zweiten Weltkrieg. Steinmeier will am Mittwoch an der Gedenkveranstaltung für die ermordeten Juden von Babi Jar teilnehmen. Dort waren am 29. und 30. September 1941 fast 34.000 ukrainische Juden Opfer von Massenerschießungen deutscher Spezialkommandos geworden. Die Leichen wurden in der „Altweiberschlucht“ (Babi Jar) am Stadtrand von Kiew verscharrt.

Holocaust-Forscher Snyder forderte die Deutschen zu einem ausgewogeneren Geschichtsbild auf, wenn es um die NS-Vernichtungsgeschichte auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion geht. „Die russische Propaganda war sehr gut darin, all das Leiden im Zweiten Weltkrieg für Russland zu reklamieren“, sagte er der „Welt“: Er hoffe, dass der Besuch des deutschen Präsidenten „zu mehr Ausgewogenheit“ führe: „Etwa 60.000 Juden wurden in Russland ermordet, was natürlich eine furchtbar hohe Zahl ist, aber sie ist weitaus geringer als die Anzahl von Juden, die in der Ukraine oder in Belarus ermordet wurden.“

Synder fordert mehr Solidarität mit Ukraine

Steinmeiers Reise sei „sehr wichtig, um die Geschichte der deutschen Besatzung der Ukraine stärker ins deutsche Bewusstsein zu rücken“, so der in Yale lehrende Historiker: „Es ist ein trauriges, aber auch politisch bequemes Missverständnis, zu denken, dass all die Verbrechen in einem Ort namens Russland stattfanden“, so Snyder über die deutsche Erinnerungskultur: „Sie ereigneten sich in der Sowjetunion, aber vor allem in den Sowjetrepubliken Ukraine und Belarus. Und je eher die Deutschen sich daran erinnern, desto eher werden sie beide Länder als eigenständige historische Subjekte begreifen.“ Snyder forderte die Deutschen auf, sie sollten das Gespräch mit der Ukraine und Belarus über die Vergangenheit pflegen „auf derselben Ebene wie mit Russland“.

Angesichts der russischen Aggression gegen das Land forderte Snyder von den Deutschen mehr Solidarität und Mitgefühl für die Ukraine: „Als Russland 2014 die Ukraine überfiel hätte es sehr geholfen, wenn mehr Deutsche die Ukraine als eigenständiges historisches Subjekt gesehen hätten und das Gefühl gehabt hätten, dass sie Sympathien empfinden sollten gegenüber dem Land. Leider war davon 2014 sehr wenig zu sehen, mit einigen positiven Ausnahmen, etwa bei den Grünen.“

kna