Der Muezzinruf steht nach Einschätzung der Arabisten Angelika Neuwirth und Dirk Hartwig in enger Verwandtschaft zum christlichen Glockengeläut und dem jüdischen Schofarblasen.
Berlin – Der Muezzinruf steht nach Einschätzung der Arabisten Angelika Neuwirth und Dirk Hartwig in enger Verwandtschaft zum christlichen Glockengeläut und dem jüdischen Schofarblasen. In einer muslimischen Umgebung nehme er sich „natürlicher“ aus als in Deutschland, „wo der Islam erst spät heimisch wurde und bereits säkulare Verhältnisse vorfand“, schreiben die Wissenschaftler in einem Gastbeitrag für die „Welt am Sonntag“. Zugleich sei der öffentliche Gebetsruf „eine Minimalbestätigung der Tatsache, dass Muslime heute in Deutschland ihre Religion ausüben“.
Außer dem Bekenntnis zu Mohammed als Religionsstifter enthalte der Ruf „nichts spezifisch Islamisches“, erklären die Koranexperten weiter. „Bereits bei einem groben Blick erkennt man aus der christlichen Tradition Vertrautes wieder“, etwa das Glaubensbekenntnis. „Das eindrückliche ‚Allahu akbar‘ entspricht im Christentum der ebenso empathisch eingesetzten Trinitätsformel oder auch jüdischerseits der Betonung der einzigartigen und kollektiv-exklusiven Gottesbeziehung: ‚Keiner ist wie unser Gott, keiner ist wie unser König, keiner ist wie unser Retter.'“
„Exemplarisch für den sensiblen Umgang“
Entstanden ist der Muezzinruf laut Neuwirth und Hartwig in der Spätantike. Er stehe „exemplarisch für den sensiblen Umgang der frühislamischen Zeit (omaijdischen Zeit) mit den Nachbarreligionen: Wo sich der Islam über den Nahen Osten verbreitete, ohne eine Glaubensmeinung einer anderen Religionstradition zu bestreiten, wurde an ihre Stelle eine abgemilderte eigene gesetzt.“
Die Wissenschaftler äußerten sich aus Anlass des Modellprojekts zu Muezzinrufen in Köln, das derzeit für Debatten sorgt.Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker (parteilos) verteidigte indes das Projekt, das auf zwei Jahre befristet ist. Dass der Muezzinruf genauso selbstverständlich erklingt wie Kirchenglocken, ist indes unwahrscheinlich. Die Domstadt kündigte an, dass Moscheegemeinden auf Antrag und unter Auflagen ihre Gläubigen an Freitagen zum Gebet rufen können. Bislang habe noch keine Gemeinde einen Antrag gestellt. In Deutschland gibt es bislang einige Dutzend Gemeinden, in denen der Muezzin zum Gebet rufen darf.
Modellprojekt in Köln sorgt für heftige Diskussionen
Ein Modellprojekt in Köln sorgt für heftige Diskussionen: Unter Auflagen erlaubt die Stadt nun Moschee-Gemeinden, ihre Gläubigen zum mittäglichen Freitagsgebet zu rufen. Der Publizist und Islamkritiker Hamed Abdel-Samad sieht in der Zulassung des Muezzin-Rufs in Köln die verfassungswidrige Bevorzugung einer Minderheit und einen weiteren Schritt auf dem Weg zu mehr Einfluss des Islam. „Atheisten, Hindus und Veganer dürfen das nicht. Nur die Minderheit der Muslime darf jetzt an 35 Orten in Köln jeden Freitag fünf Minuten ihre Ideologie herausposaunen“, sagte Hamed Abdel-Samad der Welt in einem Interview.
Das habe weder mit Vielfalt noch mit Glaubensfreiheit zu tun. Der Muezzin-Ruf sei nicht vergleichbar mit dem Läuten der Kirchenglocken. „Die Glocken nerven manchmal auch, machen aber keine Propaganda wie der Muezzin-Ruf. Über die Glocken wird keine Ideologie verkündet. Aber wenn der Muezzin den Schlachtruf ‚Allahu Akbar‘ ruft, also ‚Allah ist größer als alle Religionen, alle Feinde, alle Menschen, und Mohammed ist sein Gesandter‘, ist das eine klare Ansage an den Rest der Gesellschaft.“
Welche Position hat das Erzbistum Köln zum Muezzinruf?
Offen für das Modellprojekt zeigt sich dagegen der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Heinrich Bedford-Strohm. „Dass Muslime hier leben, dass sie auch ihre Religion ausüben, und nicht nur im privaten Kämmerlein, gehört für mich zu einer demokratischen Gesellschaft“, erklärte der Landesbischof gegenüber dem Mannheimer Morgen. „Gleichzeitig ist das Christentum die Kultur, die hier gewachsen ist.“ Jetzt sei man in einem „Findungsprozess, wie man die Tatsache, dass Muslime hier ihren Glauben auch leben dürfen, vor Ort gestaltet“. Wenn das in Köln als integrativer Teil eines religiösen Lebens erlebt werde, dann sei nichts dagegen zu sagen.
Das Erzbistum Köln will sich aktuell nicht in die Diskussion einbringen. „Seitens des Erzbistums Köln ist derzeit keine Stellungnahme dazu geplant“, erklärte eine Sprecherin dem Neuen Ruhrwort auf Anfrage.