Die Frage, ob der Staat eine Impfung erzwingen kann, bleibt unter Politikern und Ethik-Experten stark umstritten. Dabei mehren sich die Stimmen, die eine allgemeine Impfpflicht befürworten.
Bonn – Die Frage, ob der Staat eine Impfung erzwingen kann, bleibt unter Politikern und Ethik-Experten stark umstritten. Dabei mehren sich die Stimmen, die eine allgemeine Impfpflicht befürworten.
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) lehnte ein solches Vorgehen am Dienstag weiter ab. Eine allgemeine Impfpflicht „löst unser akutes Problem nicht, die Wirkung käme zu spät“, sagte der Minister im Deutschlandfunk. Spahn frage außerdem, wie der Impfstatus in der Praxis kontrolliert werden solle. Würden Bußgelder eingeführt, hätten es reiche Bürger leichter als sozial schwächere. Ein Sprecher des Bundesjustizministeriums bezeichnete eine allgemeine Impfpflicht im Redaktionsnetzwerk Deutschland als „Ultima Ratio“, die „nicht ausgeschlossen und verfassungsrechtlich vorstellbar“ sei.
Kerstin Schlögl-Flierl, Augsburger katholische Moraltheologin und Mitglied des Deutschen Ethikrats, sagte dem kirchlichen Kölner Internetportal domradio.de, der Ethikrat werde sich bald äußern. Bis jetzt habe das Gremium die allgemeine Impfpflicht ausgeschlossen. „Nun hat sich die Lage dramatisch verändert.“ Sie persönlich sei mit ihrem Nein zur Impffplicht in Zweifel geraten. Deutlich in Richtung einer allgemeinen Impfpflicht positionierte sich der Berliner katholische Sozialethiker Andreas Lob-Hüdepohl, der dem Ethikrat angehört. „Die kollabierende intensivmedizinische Versorgung führt heute schon zu extremen, manchmal sogar tödlichen Unterversorgungen anderer schwerer Erkrankungen“, sagte er der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA).
Auch der Frankfurter katholische Moraltheologe Christof Mandry (52) hält eine allgemeine Impfpflicht für fast unvermeidlich. Mit Blick auf das Argument von Impfgegnern, selbstbestimmt entscheiden zu wollen, sagte er der KNA, die christliche Ethik sehe es bereits kritisch, wenn Menschen ihr eigenes Leben unnötig aufs Spiel setzten. „Hier geht es aber um die sozialethische Pflicht, die Gesundheit anderer nicht unnötig zu gefährden.“ Die katholische Moraltheologin Edeltraud Koller hält ebenfalls eine allgemeine Impfpflicht für „ethisch völlig vertretbar“. Anders als die Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche (EKD), Annette Kurschus, sprach sich auch Diakoniepräsident Ulrich Lilie für eine allgemeine Impfpflicht aus.
Der Bielefelder Gewaltforscher Andreas Zick sieht in einer Corona-Impfpflicht ein großes gesellschaftliches Konfliktpotenzial, das zur weiteren Radikalisierung der Minderheit der Impfgegner führen werde. Dem TV-Sender phoenix sagte er: „Es wird immer deutlicher, dass wir Demokratie-distante Minoritäten haben, die ihre Einstellung durchsetzen wollen, die sich keinen Fußbreit bewegen.“ Zick ergänzte: „Wir hören keinen Vorschlag, wie es denn gehen soll ohne eine Impfpflicht, auch nicht aus rechtspopulistischen Parteien.“
Der Bielefelder Professor für Öffentliches Recht, Franz C. Mayer, sagte dem Redaktionsnetzwerk, die Freiheit des Einzelnen ende da, „wo Freiheit und Gesundheit anderer in Gefahr sind – das ist hier der Fall, wenn die Impfkampagne nicht gelingt“. Man werde sicher „niemanden mit Gewalt zwangsimpfen“; es sei nicht auszuschließen, dass Verweigerer aber ihren Krankenversicherungsschutz verlieren.
Der Verfassungsrechtler Ulrich Battis sagte den Zeitungen, eine allgemeine Impfpflicht sei „durchsetzbar“ und „verhältnismäßig“. Der Münsteraner Professor für Öffentliches Recht, Hinnerk Wißmann, sagte der „Welt“, eine Impflicht sei das mildere Mittel, „wenn die Alternative ist, den freien Staat in Lockdown-Endlosschleifen abzuschaffen“.
Thorsten Kingreen, Lehrstuhlinhaber für Öffentliches Recht und Gesundheitsrecht an der Uni Regensburg, hält es für ausgeschlossen, dass das Bundesverfassungsgericht eine allgemeine Impfpflicht generell für unzulässig erklärt. Aktuell seien jedoch mildere Maßnahmen noch nicht ausgeschöpft. Dagegen nannte sein Oldenburger Kollege Volker Boehme-Neßler eine Impfpflicht „unverhältnismäßig und damit verfassungswidrig, solange es Möglichkeiten zur Kommunikation gibt“.