Nach Vorstellung einer Studie zu sexueller Gewalt im Bistum Hildesheim sind Missbrauchsvorwürfe gegen den früheren Adveniat-Geschäftsführer und Auslandsbischof Emil Stehle (1926-2017) laut geworden.
Hannover – Nach Vorstellung einer Studie zu sexueller Gewalt im Bistum Hildesheim sind Missbrauchsvorwürfe gegen den früheren Adveniat-Geschäftsführer und Auslandsbischof Emil Stehle (1926-2017) laut geworden. „Nach Veröffentlichung des Berichts hat sich bei mir zunächst ein Angehöriger, dann die Betroffene selbst gemeldet und vorgetragen, durch Stehle sexuell missbraucht worden zu sein“, schreibt die Obfrau der für die Studie verantwortlichen Expertengruppe, Antje Niewisch-Lennartz, in einem offenen Brief an den Vorsitzenden der katholischen Deutschen Bischofskonferenz, Georg Bätzing.
„Aufgrund meiner Erfahrungen im Rahmen der Tätigkeit für die Expertengruppe aber auch aufgrund meiner langjährigen richterlichen Expertise habe ich keinen Anhaltspunkt dafür, an dem Wahrheitsgehalt des Vortrags zu zweifeln“, so die frühere niedersächsische Justizministerin weiter. In seiner deutschen Heimat-Diözese, in der Stehle bis zu seiner Bischofsweihe im Jahr 1983 inkardiniert war, sei zudem ein weiterer Missbrauchsvorwurf bekannt. Über Einzelheiten der Missbrauchsvorwürfe machte Niewisch-Lennartz keine Angaben. Sie forderte von Bätzing eine „sofortige und systematische Aufklärung“. Ihr vom 9. Dezember datiertes Schreiben wurde am Dienstag auf der Internetseite der Expertengruppe publiziert.
Niewisch-Lennartz verweist darin auch auf die Beteiligung Stehles an der Vereitelung der Strafverfolgung eines Priesters, die durch die im September präsentierte Studie der Expertengruppe bekannt geworden war. Gegen den beschuldigten Geistlichen hatte die Staatsanwaltschaft Braunschweig laut Studie 1963 wegen des Verdachts des wiederholten sexuellen Missbrauchs an schutzbefohlenen Minderjährigen Haftbefehl erlassen. Stehle, damals Leiter der Koordinierungsstelle „Fidei Donum“ der Deutschen Bischofskonferenz für deutsche Geistliche in Lateinamerika, sorgte offenbar dafür, dass der Priester unter anderem Namen in Paraguay eingesetzt wurde. Das geht aus einem Schreiben Stehles aus dem Jahr 1976 an den damaligen Hildesheimer Bischof Heinrich Maria Janssen (1907-1988) hervor. Die finanzielle Versorgung des untergetauchten Geistlichen wurde demnach durch das katholische Lateinamerika-Hilfswerk Adveniat sichergestellt.
Expertengruppe: Vorgehen kein Einzelfall
Die Diktion dieses Schreibens lege nach Wahrnehmung der Expertengruppe eindeutig den Schluss nahe, dass es sich bei dem Vorgehen nicht um einen Einzelfall handele, so Niewisch-Lennartz in ihrem Brief. Die Darstellung biete „zwingende Veranlassung“, die Tätigkeit der Stelle „Fidei Donum“ aufzuarbeiten. Insbesondere bedürfe es einer Aufklärung, ob regelmäßig Priester, die in Deutschland insgesamt nicht mehr tragbar waren, in Lateinamerika eingesetzt wurden und ob bei weiteren anhängigen Strafverfahren Verdeckungshandlungen zu Gunsten beschuldigter Priester feststellbar sind.
Stehle wurde 1926 in Mülhausen im heutigen Baden-Württemberg geboren und 1951 im Erzbistum Freiburg zum Priester geweiht. 1972 wurde er von der Deutschen Bischofskonferenz mit der Leitung der „Fidei Donum“-Stelle beauftragt. Im selben Jahr wurde er stellvertretender Adveniat-Geschäftsführer und 1977 Geschäftsführer. 1983 wurde Stehle Weihbischof im Erzbistum Quito in Ecuador, blieb aber zugleich Adveniat-Geschäftsführer bis 1988. 1987 ernannte ihn Papst Johannes Paul II. zum Bischof der Diözese Santa Domingo de los Colorados in Ecuador. 2002 nahm der Papst seinen altersbedingten Rücktritt an. Stehle starb 2017. Die unabhängige Expertengruppe um Niewisch-Lennartz war 2019 vom Hildesheimer Bischof Heiner Wilmer beauftragt worden. Sie hatte für ihre Studie den Umgang mit sexuellen Missbrauch in der von 1957 bis 1982 Amtszeit Heinrich Maria Janssens untersucht.
Adveniat: Geforderte externe Untersuchung bereits eingeleitet
„Adveniat vertritt die Position einer absoluten Null-Toleranz gegenüber dem Verbrechen des sexuellen Missbrauchs und stellt sich an die Seite der Betroffenen in Deutschland und in Lateinamerika. Mit Blick auf die Vergangenheit heißt das: rückhaltlose Aufklärung. Dafür werde ich als Hauptgeschäftsführer von Adveniat Sorge tragen“, erklärte am Mittwoch Pater Martin Maier, der seit dem 1. September 2021 Adveniat-Hauptgeschäftsführer ist, in einer Stellungnahme.
Deshalb sei die jetzt von Niewisch-Lennartz geforderte externe, unabhängige, fachliche und systematische Untersuchung der Fidei-Donum-Akten auf Anzeichen für sexuellen Missbrauch durch Fidei Donum-Priester bereits von der Deutschen Bischofskonferenz in Abstimmung mit Adveniat eingeleitet worden. „Direkt im Anschluss an die Veröffentlichung der Hildesheimer Missbrauchsstudie am 14.September dieses Jahres haben wir Kontakt zur Deutschen Bischofskonferenz aufgenommen, um die Aufklärung voranzutreiben. Infolge der Veröffentlichung der Adveniat-Pressemitteilung zur Missbrauchsstudie am 15. September 2021 haben uns zudem Hinweise – mit dem ausdrücklichen Wunsch auf Vertraulichkeit und Anonymität – erreicht, die darüber hinaus auf eine Täterschaft Stehles in Fällen sexuellen Missbrauchs hindeuten“, so Maier.
Die Ergebnisse der externen Untersuchung werden nach seinen Worten jeweils für die Fidei Donum-Priester zuständigen deutschen Diözesen zugeleitet, die nach der „Ordnung für den Umgang mit sexuellem Missbrauch Minderjähriger und schutz- oder hilfebedürftiger Erwachsener durch Kleriker und sonstige Beschäftigte im kirchlichen Dienst“ für die Aufarbeitung verantwortlich seien. Darüber hinaus werde der Bericht an die in Lateinamerika zuständigen Diözesen weitergeleitet. Der Untersuchungsbericht soll laut Adveniat voraussichtlich im ersten Halbjahr 2022 fertiggestellt sein.
Adveniat: Umfassendes Schutzkonzept erarbeitet
„Die deutschen Diözesanpriester, die in Lateinamerika und der Karibik eingesetzt sind und nach dem Namen einer Enzyklika auch „Fidei Donum-Priester“ genannt werden, sind entweder in ihren Heimatdiözesen oder in den Diözesen, in die sie entsandt wurden, inkardiniert; dort liegt die Personalverantwortung und werden auch ihre Personalakten geführt“, erläuterte Maier. Da jedoch auch im überschaubaren Aktenbestand der von der Deutschen Bischofskonferenz gegründeten „Koordinierungsstelle Fidei Donum“ Hinweise auf sexuellen Missbrauch und dessen Vertuschung vermutet werden müssten, sollen auch diese Akten extern, unabhängig, fachlich und systematisch auf Anzeichen für sexuellen Missbrauch durch Fidei Donum-Priester oder dessen Vertuschung untersucht werden. „Die unabhängige Untersuchung wurde bereits von der Deutschen Bischofskonferenz in Abstimmung mit Adveniat, wo die Koordinierungsstelle seit 1976 angesiedelt ist, vereinbart und wird in Kürze in Auftrag gegeben“, sagte Maier.
Die Aufarbeitung der Vergangenheit sei damit in die Wege geleitet. „Um in der Gegenwart und Zukunft sexuelle Gewalt und Machtmissbrauch zu verhindern, hat Adveniat bereits vor einigen Jahren ein umfassendes Schutzkonzept erarbeitet, das von der Arbeitsgruppe Gewaltprävention ständig weiterentwickelt wird. Zudem fordern wir von unseren Projektpartnerinnen und Projektpartnern Schutzkonzepte ein. Gemeinsam stehen wir so für eine Null-Toleranz-Strategie gegenüber dem Verbrechen des sexuellen Missbrauchs in Deutschland und Lateinamerika“, sagte Maier.