Die Gutachter sehen nach ihrer Prüfung von Missbrauchstaten im Erzbistum München und Freising in vier Fällen ein Fehlverhalten des späteren Papstes Benedikt XVI.
München –Die Gutachter haben bei ihrer Prüfung von Missbrauchstaten im Erzbistum München und Freising 235 mutmaßliche Täter von 1945 bis 2019 ermittelt. Davon seien 173 Priester gewesen, sagte Anwalt Martin Pusch am Donnerstag in München. Die Zahl der Geschädigten liege bei 497. Davon seien 247 männliche Betroffene gewesen, 182 weiblich. Bei 68 Personen sei das Geschlecht nicht festzustellen gewesen. Dies bestätige, dass überwiegend männliche Kinder und Jugendliche betroffen gewesen seien.
Bei fast 60 Prozent von diesen seien die Taten im Alter zwischen 8 und 14 Jahren erfolgt. Bei den weiblichen Betroffenen gelte dies für ein Drittel der Personen. Die meisten Taten seien in den 1960er und 1970er Jahren begangen worden, so Pusch. Auffällig viele Tatvorwürfe seien von Betroffenen erst ab dem Jahr 2015 gemeldet worden. Der Anwalt betonte, bei diesen Zahlen handle es sich um das „Hellfeld“, das „Dunkelfeld“ sei weitaus größer.
67 Kleriker hätten laut Pusch aufgrund der „hohen Verdachtsdichte“ aus Sicht der Anwälte eine kirchenrechtliche Sanktion verdient. In 43 Fällen sei jedoch eine solche unterblieben. 40 von ihnen seien weiter in der Seelsorge eingesetzt worden, darunter auch 18 Priester nach einer strafrechtlichen Verurteilung eines weltlichen Gerichts. Pusch sagte, Geschädigte seien bis 2002 von den Kirchenverantwortlichen „so gut wie überhaupt nicht wahrgenommen worden“, falls doch, „dann nicht aufgrund des ihnen zugefügten Leids, sondern weil man sie als Bedrohung für die Institution sah“.
Pusch weiter: „Ein Paradigmenwechsel in Richtung der Geschädigtenperspektive wurde nach unserer Einschätzung nicht vollzogen. Bis in die jüngste Vergangenheit und teils auch heute noch begegnen Geschädigte Hürden und teils unausgesprochenen Vorbehalten, wenn es um die effektive Wahrnehmung und Durchsetzung ihrer Belange geht. Nicht wenig muss nach unserem Eindruck mühsam durchgesetzt werden.“
Gutachter werfen Kardinal Marx mangelndes Engagement vor
Die Gutachter werfen dem Münchner Kardinal Reinhard Marx vor, sich nicht ausreichend um die Behandlung der Fälle sexuellen Missbrauchs gekümmert zu haben. „Wann, wenn nicht im Fall des sexuellen Missbrauchs Minderjähriger ist die Einordnung einer Thematik als Chefsache zutreffend“, sagte Anwalt Martin Pusch am Donnerstag. Dies gelte erst recht mit Blick auf die zentrale Rolle des Diözesanbischofs in den einschlägigen Regelwerken. „Dass Erzbischof Kardinal Marx diese wahrgenommen hätte, war für uns jedoch nicht feststellbar.“ Eine gewisse Änderung habe sich erst ab dem Jahr 2018 ergeben.
Ungeachtet der Vielzahl der seit 2010 eingegangenen Meldungen zu Missbrauch durch noch lebende Kleriker sei für Marx als Erzbischof in einer nur verhältnismäßig geringen Zahl eine unmittelbare Befassung feststellbar, kritisieren die Gutachter. Im wesentlichen habe er sich darauf beschränkt, die verwaltungsseitig vorgeschlagenen Maßnahmen, die ihm als Diözesanbischof oblägen, umzusetzen. Der Kardinal sehe die regelkonforme und sachgerechte Behandlung von Missbrauchsfällen in erster Linie bei Generalvikar und Ordinariat. Er selber sei primär für die Verkündigung des Wortes Gottes zuständig.
Diese Sichtweise teile man nicht uneingeschränkt. Sie greife angesichts der „zentralen, mit einer Vielzahl von erheblichen Risiken verbundenen Thematik“ zu kurz, so Pusch. Konkret fehlerhaftes Verhalten attestieren die Gutachter Marx in zwei Fällen. Dabei handele es sich vor allem um die Frage, ob eine Meldung an die Glaubenskongregation erfolgt sei.
Gutachter werfen Kardinal Wetter Fehlverhalten in 21 Fällen vor
Dem früheren Erzbischof Kardinal Friedrich Wetter attestiert dem Münchner Missbrauchsgutachten Fehlverhalten in 21 Fällen. Dabei müsse man die lange Amtszeit Wetters von mehr als 25 Jahren berücksichtigen, sagte Anwalt Martin Pusch am Donnerstag. Nennenswerte Aktivitäten des Erzbischofs mit Blick auf Beschuldigte oder einer Aufklärung seien von einzelnen Ausnahmen abgesehen nicht ersichtlich. Der Kardinal selbst habe mit Ausnahme eines Falles ein Fehlverhalten bestritten.
Erst ab dem Jahr 2010 sei offen über die Thematik des sexuellen Missbrauchs in der Kirche gesprochen worden. Wetter mache eine mangelnde Kenntnis über die Dimensionen sexuellen Missbrauchs geltend. Dies sei angesichts der Berichterstattung, etwa über den Fall Groer und die Ereignisse in den USA, eine „wenig tragfähige Schutzbehauptung“, so Pusch. „Plausibler erscheint uns die Verdrängung eines mit Händen greifbaren Problems.“
Die Anwältin Marion Westpfahl sagte, man müsse heute von keiner der bereits im ersten Gutachten von 2010 getroffenen Grundaussagen abrücken. Eine „Korrektur“ sei jedoch bei der Bewertung des Verhaltens von Joseph Ratzinger erforderlich, der von 1977 bis 1982 Münchner Erzbischof war. Die Untersuchung im Auftrag des Erzbistums München und Freising wurde von der Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl nach der Pressekonferenz am Mittag im Internet vollständig veröffentlicht. Sie umfasst mehr als 1.600 Seiten. Benedikt XVI. hat dazu eine Stellungnahme von 82 Seiten abgegeben.
Kanzlei wirft Benedikt XVI. in vier Fällen Fehlverhalten vor
Bezogen auf die Amtszeit Josef Ratzingers (1977-1982) als Erzbischof von München und Freising, des späteren Papstes Benedikt XVI., sprechen die Gutachter von einem Fehlverhalten in vier Fällen, die ihm vorzuhalten seien. Rechtsanwalt Martin Pusch wies zugleich darauf hin, dass das emeritierte Kirchenoberhaupt in einer persönlichen Stellungnahme dies in allen Fällen zurückgewiesen habe. Seine Stellungnahme ist mit seiner Einwilligung mit dem Gutachten veröffentlicht worden.
Nach Puschs Ausführungen betreffen zwei Fälle Priester, die unter Erzbischof Joseph Ratzinger wegen Missbrauchs strafrechtlich sanktioniert worden waren, aber beide weiter als Seelsorger arbeiten durften. Kirchenrechtlich sei gegen sie nicht vorgegangen worden, von Fürsorge gegenüber ihren Opfern „nichts erkennbar“. Benedikts Einlassungen bieten aus Sicht der Anwälte „einen authentischen Einblick“ zur persönlichen Haltung eines herausgehobenen Kirchenvertreters zum Missbrauchsgeschehen. Zweifel äußerte Pusch an der in einigen Fällen von Benedikt XVI. behaupteten Unkenntnis. Diese sei mit den aus den Akten gewonnenen Erkenntnissen bisweilen „kaum in Einklang zu bringen“.
Angaben von Ex-Papst zu Fall H. „wenig glaubwürdig“
Die Gutachter halten Angaben von Benedikt XVI. zu dem brisanten Fall des Priesters Peter H. für „wenig glaubwürdig“. Der auch im Vorfeld der Veröffentlichung intensiv diskutierte Fall betrifft einen Wiederholungstäter, der Anfang 1980 von Essen nach München kam. Der emeritierte Papst hat mehrfach betont, er habe von dessen Vorgeschichte zum Zeitpunkt der Aufnahme in München nichts gewusst und sei auch bei der entsprechenden Ordinariatssitzung nicht dabei gewesen.
Anwalt Ulrich Wastl verwies auf das vorliegende Protokoll dieser Sitzung, in dem der damals in München amtierende Erzbischof Joseph Ratzinger nicht als abwesend vermerkt worden sei. Außerdem zitierte Wastl aus dem Protokoll, wie „der Herr Kardinal“ bei dieser Sitzung über die Trauerfeier für den verstorbenen Berliner Kardinal Alfred Bengsch und vertrauliche Gespräche mit dem damaligen Papst Johannes Paul II. über den Theologen Hans Küng berichtet habe.
Der emeritierte Papst Benedikt erklärt in einer Stellungnahme, dass er bei der Sitzung am 15. Januar 1980 nicht dabei gewesen sei, als über den Einsatz des einschlägig vorbelasteten Priesters beraten wurde. Diese Aussage ist nach Einschätzung der Gutachter „wenig glaubwürdig“. Der Gutachter Wastl zitierte während der Pressekonferenz aus dem Protokoll der damaligen Ordinariatssitzung. Demzufolge hatte Kardinal Ratzinger in dieser Sitzung über eine Trauerfeier berichtet und Einzelheiten aus einem Gespräch mit dem damaligen Papst Johannes Paul II wiedergegeben.
Laut Wastl hat auch Ratzingers damaliger Generalvikar Gerhard Gruber seine öffentliche Aussage von 2010 inzwischen relativiert. Gruber übernahm damals die alleinige Verantwortung dafür, dass der Essener Priester wieder in der Seelsorge eingesetzt worden sei. Gruber habe jetzt ausgesagt, er sei dazu gedrängt worden. Er zweifle nicht daran, dass Ratzinger die Umstände, die zu dem Wiedereinsatz geführt hätten, gekannt habe.
Empfehlungen für Verantwortungsträger
Die Anwälte der Kanzlei legen kirchlichen Verantwortungsträgern nahe, über ihre persönliche Schuld an Missbrauchsfällen nachzudenken. Sie sollten sich fragen, ob sie nicht Bestandteil eines Systems gewesen seien, das zumindest bis 2010 total versagt habe, sagte der Anwalt Ulrich Wastl am Donnerstag in München. Dabei müssten sie überlegen, ob es für sie damals keine Gelegenheit zu opponieren gegeben habe. Außerdem sollten sie darüber nachdenken, warum es ihnen nicht möglich gewesen sei, wahrzunehmen, wozu sexueller Missbrauch bei Betroffenen führt.
Wastl sagte, er habe in den drei von seiner Kanzlei bisher untersuchten Bistümern – das sind Aachen, Köln und München-Freising – nur einen kirchlichen Würdenträger kennen gelernt, der sich diese Frage ernsthaft gestellt habe. Dieser sei 1993 verstorben. WSW gab drei weitere Empfehlungen ab: Jegliche Entscheidung über den Wiedereinsatz eines strafrechtlich auffällig gewordenen Priesters sollte durch ein völlig unabhängiges Gremium getroffen werden. Für Betroffene und andere Zeitzeugen müssten geschützte Räume zur Verfügung gestellt werden, in denen sie sich öffnen könnten. In diesen Räumen dürfe kein Priester sein. Von Missbrauchsfällen betroffene Pfarrgemeinden müssten an der Aufklärung beteiligt und in der Aufarbeitung begleitet werden, um Spaltungen zu vermeiden.
Münchner Generalvikar: „Mich bewegt und beschämt das sehr“
Der Münchner Generalvikar Christoph Klingan hat das Missbrauchsgutachten als „gewichtigen Baustein“ bei der Aufarbeitung gewürdigt. Seine Gedanken seien zunächst bei den Betroffenen, sagte Klingan nach der Übergabe der vier Bände durch die Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl am Donnerstag. „Mich bewegt und beschämt das sehr.“ Er dankte Betroffenen, die bereit seien, mit der Kirche über die Konsequenzen zu sprechen.
Klingan wiederholte, dass sich das Erzbistum am kommenden Donnerstag bei einer Pressekonferenz näher zu dem Gutachten äußern werde. Der Münchner Kardinal Reinhard Marx, dessen Fernbleiben von der Vorstellung des Gutachtens durch die Anwälte kritisiert wurde, will am Donnerstagnachmittag ein Statement abgeben.
Forscherin: Münchner Erzbistum lehnte Zusammenarbeit bei Missbrauchsaufarbeitung ab