Kardinal Gerhard Ludwig Müller (74) sieht den emeritierten Papst Benedikt XVI. rund um das Münchner Missbrauchsguten fälschlicherweise in der Kritik.
Rom – Kardinal Gerhard Ludwig Müller (74) sieht den emeritierten Papst Benedikt XVI. rund um das Münchner Missbrauchsguten fälschlicherweise in der Kritik. „Ich habe das Gutachten nicht gelesen; aber für mich ist klar, dass Erzbischof Ratzinger nicht vorsätzlich etwas Falsches getan hat“, sagte der ehemalige Präfekt der Glaubenskongregation dem „Corriere della Sera“ (Freitag). Falls daher Fehler begangen worden seien, habe der emeritierte Papst nichts davon gewusst.
Vielmehr gebe es in Deutschland, aber auch darüber hinaus, Personen, die Benedikt XVI. gezielt schaden wollten. „Er ist gewissermaßen der höchste Repräsentant des Katholizismus in Deutschland, aber er vertritt eine orthodoxe Haltung“, so Müller, der dem ehemaligen Papst nahe steht, weiter. In Deutschland gebe es jedoch viele, die einen unorthodoxen Weg anstrebten, etwa über eine Abschaffung des Zölibats und der Priesterweihe für Frauen. Diese Personen hätten den emeritierten Papst immer kritisiert und attackiert.
Müller: Benedikt XVI. habe strengere Regeln eingeführt
Damals habe keiner genau gewusst, was eine angemessene Reaktion auf die Missbrauchsvorwürfe gewesen wäre – weder in der Kirche noch in der übrigen Gesellschaft, erklärte Müller weiter. Man habe angenommen, eine Therapie für den Täter könne das Problem lösen. Heute wisse man, dass dies bei Kriminellen nicht reiche. Papst Benedikt XVI. selbst habe daher in seiner Amtszeit (2005-2013) strengere Regeln eingeführt, und Papst Franziskus habe diese Kehrtwende weiterverfolgt.
Das am Donnerstag veröffentlichte Missbrauchsgutachten für das Erzbistum München-Freising belastet amtierende und frühere Amtsträger, darunter auch den emeritierten Papst Benedikt XVI. Joseph Ratzinger habe sich als Münchner Erzbischof (1977-1982) in vier Fällen fehlerhaft verhalten, heißt es in der Untersuchung der Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl (WSW). Zudem melden die Gutachter erhebliche Zweifel an Aussagen von Benedikt XVI. zu einem besonders brisanten Fall eines Wiederholungstäters an. Völlig gefehlt habe die Sorge um die Opfer. Betroffenenvertreter reagierten entsetzt.
Theologen fordern Konsequenzen aus Missbrauch und Vertuschung
Der Bochumer Theologe Matthias Sellmann hat nach dem im Münchner Gutachten dokumentierten Vertuschen von Missbrauch und sexualisierter Gewalt in der katholischen Kirche Konsequenzen gefordert. „Wir brauchen Rücktritte, die auch angenommen werden. Wir brauchen erkennbare kirchenpolitische Zeichen, dass wir die Erschütterung durch Missbrauch in den eigenen Reihen wirklich ernst nehmen“, sagte Sellmann am Freitag bei einer Tagung der Theologischen Fakultät der Universität Freiburg. Versagen bei Missbrauch und dessen Vertuschung stünden dem „Weg zu Gott“ massiv im Weg. Als Chance für echte Veränderung beschrieb er den aktuellen Reformprozess Synodaler Weg. Hier sei es möglich, Leitplanken für eine gute, künftige Entwicklung zu vereinbaren.
Der Jesuit und Leiter der Kölner Kunststation Sankt Peter, Stephan Kessler, sprach von einer Abschottung der Kirche in einer „Sonderwelt“, die enden müsse. Christen und Kirche müssten sich stärker von Leid und Ungerechtigkeit berühren lassen. Es gelte, auf die Stimmen der Verletzten zu hören. Statt den „Zeitgeist“ zu verurteilen, sollten Christen auf ihn hören und fragen, was es Neues für Glauben und Theologie zu entdecken gebe. Kessler, der lange in der Priester- und Seelsorgerausbildung gearbeitet hat, sprach sich auch für neue Ausbildungsstrukturen des kirchlichen Personals aus. Es brauche nachprüfbare Qualifikationen und vor allem soziale Kompetenzen; niemand dürfe sich hinter einer „Berufung“ verstecken.
Das Konzept von flächendeckenden Kirchengemeinden sieht Kessler für Deutschland gescheitert. „Der Christ der Zukunft wird nicht mehr Leibeigener einer vormodernen Kirchenstruktur sein, sondern einer, der Transzendenzerfahrungen gemacht hat.“ Deshalb solle Kirche einladende, offene Räume anbieten, wo alle Fragen und Themen „suchender Menschen“ auf den Tisch kommen könnten. Die in Lateinamerika lehrende Theologin Martha Zechmeister rief zu mehr Anteilnahme am Leid von Armen und Bedrohten auf. Wer heute Christ sein wolle, müsse sein ganzes Leben in die Waagschale werfen, um das Leben von Menschen am Rande der Gesellschaft zu retten. „Die Herrlichkeit Gottes ist das Leben der Armen“, so die Theologin.