Benedikt XVI. hat eine zentrale Aussage im Münchner Missbrauchsgutachten korrigiert. Wie kam es dazu? Und warum stieß seine Einlassung überhaupt auf so viel Kritik? Versuch einer Erklärung.
Vatikanstadt/Rom – Rückzieher des emeritierten Papstes: Als Münchner Erzbischof hat er im Januar 1980 doch an einer Konferenz teilgenommen, in der über die Aufnahme eines Priesters gesprochen wurde, der im Bistum Essen als Missbrauchstäter aufgefallen war. In seiner Einlassung zu dem am Donnerstag veröffentlichten Missbrauchsgutachten hatte er noch das Gegenteil behauptet. Das sei mit den aus den Akten gewonnenen Erkenntnissen „kaum in Einklang zu bringen“, befanden die Gutachter der Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl (WSW).
„Nicht aus böser Absicht heraus geschehen“
Die geballte Kritik an Joseph Ratzinger/Benedikt XVI. konzentrierte sich vor allem auf diesen offensichtlichen Widerspruch. Daher sahen sich Benedikt und sein Umfeld – auch wenn sie die 1.900 Seiten noch nicht vollständig analysiert haben – zu einer ersten Erklärung gezwungen. Am Montag ruderte der ehemalige Papst zurück. Er erklärte, „dass er, entgegen der Darstellung im Rahmen der Anhörung, an der Ordinariatssitzung am 15. Januar 1980 teilgenommen hat“. Die fehlerhafte Angabe sei aber „nicht aus böser Absicht heraus geschehen“, sondern sei „Folge eines Versehens bei der redaktionellen Bearbeitung“. Wie es dazu kam, will Benedikt XVI. in einer späteren ausführlichen Stellungnahme erklären.
Der Hinweis auf die redaktionelle Bearbeitung stützt die schon vorher von vielen geäußerte Vermutung, die Antworten des früheren Papstes auf den Fragenkatalog der Münchner Anwälte habe er nicht persönlich verfasst. Mit Erstaunen wurde wahrgenommen, dass er „sich nur auf juristische, aussagerechtliche und kirchenrechtliche Aspekte beschränkt“. So etwa die Beobachtung des Kinderschutz-Experten Hans Zollner. Der Text zeuge nicht vom Bewusstsein, dass es auch um menschliche Seiten und um die Außenwahrnehmung geht.
Gegenstand von Spekulationen und Recherchen
Erfahrenen Ratzinger-Exegeten fiel zudem auf, dass in den von Ratzinger unterzeichneten Antworten die sonst vom Ex-Papst stets gepflegte alte deutsche Rechtschreibung fehlte. Und dass seine im Juristen-Jargon verfasste Argumentation öfters den Zeitgeist als Entschuldigungs-Grund bemühte – was den bekannten theologischen Positionen Ratzingers komplett widerspricht. Dass Benedikt XVI. sich zum Thema Missbrauch anders äußern kann, zeigen sein bewegender Hirtenbrief an die irischen Katholiken von 2010 sowie zahlreiche andere Aussagen aus seinem Pontifikat.
Wie es zu den umstrittenen Gutachten-Einlassungen kam, ist Gegenstand von Spekulationen und Recherchen. Eine erste Anfrage von WSW zu einer Stellungnahme im ergangenen Jahr soll, so ist zu hören, im Vatikan abschlägig beschieden worden sein. Eher nicht oder kurz und allgemeiner antworten, war der Rat an den Emeritus. Dann aber habe sich Benedikt entschieden, doch noch zu antworten.
Von Benedikt XVI. eigenhändig unterzeichnet
Inzwischen ist klar: Seine Einlassungen in dem Gutachten wurden von einem kleinen Team vor allem aus Rechtsexperten unter Zeitdruck erstellt. Aufgrund sprachlicher und argumentativer Ähnlichkeiten werden Namen wie der der in Rom lehrende Kirchenrechtler Stefan Mückel oder der Kölner Anwalt Carsten Brennecke als Autoren vermutet. Letzterer wies am Montag die Journalisten-Vermutung zurück, dass er schuld an den redaktionellen Fehlern sei. Insgesamt waren, wie zu hören ist, in relativ kurzer Zeit rund 8.000 bis 9.000 Seiten Aktenmaterial digital zu sichten.
Am Ende aber soll Benedikt XVI. alle 82 Seiten seiner Einlassung mehrfach gelesen und sie eigenhändig unterzeichnet haben. Auch wenn der durch den Fragekatalog vorgegebene juristische Duktus dem Theologen Ratzinger gegen den Strich gegangen sein mag. Andererseits nahm Benedikt sich die Freiheit, wie es in der Einlassung heißt, die „zusammengetragenen Sachverhalte zu ergänzen“ und „auch im Hinblick auf die Bewertung Stellung zu nehmen“. Die von Benedikt am Montag angekündigte ausführliche Stellungnahme zum gesamten Gutachten könnte, so ist zu erwarten, persönlicher ausfallen. Wann sie erscheint, ist unklar. Wahrscheinlich wollen er und seine Umgebung erst einmal die Pressekonferenz der Erzdiözese München am Donnerstag abwarten.
Benedikt XVI. drücke Scham und Bedauern aus
Unklar ist ebenfalls, wie genau die Kommunikation zwischen dem Kloster Mater ecclesiae, wo das hochbetagte frühere Kirchenoberhaupt lebt, der vatikanischen Informationszentrale und der Erzdiözese München läuft. So gab es vergangene Woche direkt nach der Pressekonferenz ein erstes Statement vom vatikanischen Presseamt als Antwort auf Fragen einzelner Journalisten. Später folgte über Vatican News eine Ergänzung von Erzbischof Georg Gänswein: Benedikt XVI. drücke „wie er es bereits mehrmals in den Jahren seines Pontifikats getan hat, seine Scham und sein Bedauern aus über den von Klerikern an Minderjährigen verübten Missbrauch“.
Ob der Vatikan überhaupt offiziell reagiert, wird derzeit im Staatssekretariat erwogen. Ob und wie Franziskus selber sich äußert, ist ohnehin schwer einzuschätzen. Um die zunächst abwartende Haltung im Vatikan besser zu verstehen, muss man auch das mediale und kirchenpolitische Umfeld in Italien berücksichtigen. „Sie greifen Ratzinger an, um Bergoglio herauszufordern“, titelte die rechts-konservative Zeitung „Libero“. Sie ist nicht die einzige. Die Kritik an Benedikt diene allein dazu, in der Kirche eine Revolution voranzutreiben, die in Deutschland bereits zum „totalen Fiasko“ geführt habe. Es handle sich um ein Manöver gegen Ratzinger, das aus der Kirche selbst komme, so auch der frühere Bischof von Reggio Emilia, Massimo Camisasca (75). Dabei würden die Verdienste Ratzingers/Benedikts, der sich als einer der ersten in der Kirchenspitze dem Missbrauch stellte, ignoriert.