Als Rabbiner wurde der gebürtige Münchner Henry G. Brandt zu einer herausragenden Stimme im jüdisch-christlichen Dialog. Dabei hätte er sich auch eine ganz andere als die religiöse Karriere vorstellen können.
Augsburg – Sport? Dieser habe keineswegs zu seinem hohen Alter beigetragen, sagte Henry G. Brandt einmal der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA). „Das ist die Gnade Gottes. Ich habe gute Gene und viel Beschäftigung, die mich rege hält“, erklärte der Rabbiner zu seinem 90. Geburtstag. Nun ist Brandt im Alter von 94 Jahren gestorben. Er sei am Montag in seinem Haus in Zürich eingeschlafen, sagte am Dienstag der Berliner Rabbiner Jonah Sievers der KNA, der Brandt als seinen Lehrer bezeichnete. Mit Brandt geht nicht nur eine herausragende Figur des jüdischen Lebens in Deutschland. Sondern auch ein Mensch, der ebenso Bayer war wie Weltbürger und ebenso schelmisch wie staatsmännisch.
Familie von Brandt flüchtet vor Nationalsozialisten
Henry G. Brandt wurde am 25. September 1927 in München als Heinz Georg Brandt geboren. Als Elfjähriger erlebte der Schuhhändler-Sohn, wie am 9. November 1938 SA-Männer seinen Vater verhafteten. Als dieser bald darauf wieder entlassen wurde, floh die Familie aus ihrem, so Brandt, „geliebten“ München über Großbritannien ins damalige Palästina. Zwischen alter und neuer Heimat gebe es eine schöne Verbindung, merkte Brandt später an: Blau und Weiß, die Farben Bayerns wie Israels, „meine Farben“.
In Nahost wurde Brandt nach dem Krieg nicht etwa Straßenbahnfahrer – so sein Kindheitstraum -, sondern Flottenoffizier in der Marine. „Wäre ich da geblieben, wäre ich heute wohl Admiral. Das hätte mir gefallen. Ich sage nämlich gerne, wo es langgeht.“ Für ihn ging es zurück nach Europa. Brandt studierte Nationalökonomie in Belfast. Danach wandte er sich dem Rabbinatstudium zu, das er 1966 am Leo Baeck College in London abschloss. Es folgten Rabbinerstellen in Leeds, Genf, Zürich und Göteborg. 1983 kehrte Brandt nach Deutschland zurück, wo er unter anderem bis 1995 Landesrabbiner von Niedersachsen und danach von Westfalen-Lippe war.
Im Jahr 2004 wurde Brandt Rabbiner für Schwaben-Augsburg und für Bielefeld. Er war Ehrenvorsitzender der Allgemeinen Rabbinerkonferenz Deutschland, die er lange Jahre geleitet hatte, sowie Ehrenpräsident des Deutschen Koordinierungsrates der Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit. Auch war er Mitglied des Gesprächskreises „Juden und Christen“ im Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK) und nahm an regelmäßigen Treffen von Rabbinern und Bischöfen teil.
Brückenbauer zwischen den Religionen
Seinen Ruf als unermüdlicher Brückenbauer zwischen den Religionen festigte Brandt, als er 2008 in der Kontroverse um die Karfreitagsfürbitte für die Juden am Gespräch festhielt. Die Neufassung der Fürbitte von Papst Benedikt XVI. billige die Judenmission, hieß es – andere Vertreter des Judentums sagten daher ihre Teilnahme am Osnabrücker Katholikentag ab.
Für sein integratives Wirken wurde Brandt vielfach ausgezeichnet. Er bekam etwa das Bundesverdienstkreuz, den Bayerischen Verdienstorden, den Klaus-Hemmerle-Preis, die Ehrenbürgerwürde Augsburgs. Dabei verdiene er durchaus auch Schelte, verriet Brandt: „Für die Unordnung auf meinem Schreibtisch zum Beispiel.“
Rabbiner Sievers betont: „Das deutsche Judentum hat ihm viel zu verdanken.“ Brandt sei ein „extrem guter“ Prediger gewesen und habe Menschen mitreißen können. Und er unterstrich Brandts versöhnende Rolle trotz der Verfolgung seiner Familie in der Schoah.
Brandt: Ander Strömungen aushalten
In einem Moment verschmitzt, konnte Brandt im nächsten wieder ernst sein. So erklärte er direkt nach dem Scherz über sein Alter, er mache seit seinem 90. Geburtstag keine Zukunftspläne mehr. Wichtig sei bloß, dass seine Ämter in einem liberalen, weltoffenen Sinne weitergeführt würden. So solle der Einsatz für die Gleichstellung der Geschlechter anhalten, ebenso der Kampf gegen Antisemitismus. Dabei verwies Brandt auf „die große Zustimmung zur AfD“ unter Deutschen genauso wie auf „antijüdische Haltungen“ unter Zuwanderern.
So klar Brandt seine Positionen vertrat, so wenig nahm er sich absolut. Zur Geschlechterparität ergänzte er etwa, „liberale Geister“ wie er müssten aushalten, „dass es andere Strömungen wie die Orthodoxie gibt, die eben manches anders sehen“. Religiös wie gesamtgesellschaftlich gelte es zu akzeptieren, dass die Entwicklung aus widerstreitenden Dynamiken bestehe. „Welche Strömung sich durchsetzen wird, wird die Geschichte zeigen.“
Brandts Geschichte ist nun zu Ende. „Du wirst einmal im ICE sterben“, hatte dem umtriebigen Rabbiner einst ein Freund prophezeit. So kam es nicht. Henry G. Brandt entschlief in seinem Haus in Zürich. Er hinterlässt seine Ehefrau Sheila, mit der er über sechs Jahrzehnte verheiratet war, sowie vier Kinder und mehrere Enkel.