Gegen den wegen 118-fachen Missbrauchs angeklagten katholischen Priester U. soll an diesem Freitag vor dem Landgericht Köln das Urteil fallen.
Köln – Gegen den wegen 118-fachen Missbrauchs angeklagten katholischen Priester U. soll an diesem Freitag vor dem Landgericht Köln das Urteil fallen. Dem frühere Seelsorger in Gummersbach, Wuppertal und Zülpich wird vorgeworfen, zwischen 1993 und 2018 insgesamt neun minderjährige Mädchen sexuell missbraucht zu haben – davon in etlichen Fällen schwer. Die mutmaßlichen Betroffenen sollen bei vielen Taten noch nicht einmal 14 Jahre alt gewesen sein.
Wie Puzzleteile eines schockierenden Ganzen fügen sich die öffentlichen Verhandlungstage in einem Missbrauchsprozess vor dem Landgericht Köln zusammen. In den vergangenen drei Verhandlungsmonaten zeichneten Zeugen das Bild eines Seelsorgers, dem es gelungen sein soll, sein Umfeld zu täuschen und minderjährige Mädchen zu missbrauchen. Der mögliche Serientäter genoss das Vertrauen einer Mutter, an deren Tochter er sich sogar in ihrem eigenen Haus vergangen haben soll. Sein Arbeitgeber Kirche schaute offenbar nicht konsequent genug hin.
Missbrauch in insgesamt 118 Fällen wird dem früheren Seelsorger in Gummersbach, Wuppertal und Zülpich mittlerweile vorgeworfen – darunter etliche schwere Fälle. Die neun mutmaßlichen Betroffenen waren im Tatzeitraum zwischen 1993 und 2018 oftmals unter 14. Unter Ausschluss der Öffentlichkeit plädierte U.s Verteidiger auf eine Strafe von maximal acht Jahren, wie der „Kölner Stadt-Anzeiger“ berichtete. Die Staatsanwaltschaft forderte demnach 13 Jahre. Vorteilhaft für U. könnte sich auswirken, dass er mindestens einen Teil der Anschuldigungen gestanden hat.
U. wurde zuletzt in Handschellen zu den Gerichtsterminen gebracht. Der Geistliche, der während der Verhandlungen kaum Regung zeigte, sitzt seit Ende Januar in Untersuchungshaft. Damals ließ ihn Richter Christoph Kaufmann im Gerichtssaal festnehmen, nachdem auch Vorwürfe aus der jüngeren Vergangenheit gegen ihn laut wurden. Kaufmann sah Wiederholungsgefahr. Vergangene Woche stimmte U. zu, dass das Gericht Vorwürfe in das laufende Verfahren einbezieht, die über die ursprüngliche Anklageschrift hinausreichen. Es handelt sich hier um 85 der 118 vorgeworfenen Fälle.
Die schiere Zahl der möglichen Taten schockiert ebenso wie die massiven Handlungen, zu denen der Angeklagte kleine Mädchen gezwungen haben soll. Fassungslos macht zudem die Tatsache, dass U. über einen langen Zeitraum unbescholten blieb. Mehrere Zeugen schilderten vor Gericht, welch beliebter Seelsorger U. war und wie sehr ihm die Menschen in dieser Funktion vertrauten.
Eltern aus anderen Gemeinden hätten ihre Kinder zu U.s Kommunionunterricht geschickt, berichtete etwa der heutige Neusser Kreisdechant und frühere Kollege des Angeklagten in Gummersbach, Hans-Günther Korr. Besonders um Kinder mit getrennten Eltern oder vielen Geschwistern habe sich U. bemüht. Mit mehreren Familien habe er engen Kontakt gehabt.
Prozessbeobachter fragen sich bei solchen Schilderungen: Nutzte U. bewusst Kinder und Eltern aus, die sich in emotional schwierigen Lagen befanden? Heute würde er die Situation anders einschätzen und anders handeln, sagte Korr vor Gericht. Es sind Sätze, die im Prozess immer wieder von Kirchenvertretern fallen. Denn Hinweise auf Missbrauch gab es durchaus.
„Reihenweise“ hätten Mädchen im Pfarrhaus in Gummersbach übernachtet, so Richter Kaufmann. Das hätten vor Ort auch viele Menschen mitbekommen. Pfarrer Korr berichtete von einem Gespräch mit einem Jugendlichen: Ob er wisse, dass U. mit Kindern bade, habe der Junge gefragt. Korr habe den Angeklagten damit konfrontiert. Doch U. zerstreute die Vorwürfe. „Die wollen uns was anhängen“, habe er selbstbewusst entgegnet – und damit „uns Priester“ gemeint.
Auch in Wuppertal gab es Gemunkel. Die Leiterin einer Sozialeinrichtung sah es nicht gern, dass U. kleine Mädchen auf seinem Schoß sitzen ließ, wie sie aussagte. Als sie den Priester bat, das zu unterlassen, habe er sich gekränkt zurückgezogen. Sie habe auch mit dem leitenden Pfarrer der Gemeinde und einem Mitglied des Kirchenvorstands über die Vorfälle gesprochen. Doch U. schaffte es offenbar erneut, sich aus der Affäre zu reden. Jedenfalls gab es keine Maßnahmen gegen ihn. Sie habe sich in dieser Zeit alleingelassen gefühlt, sagte die Leiterin und wies noch einmal auf U.s Beliebtheit hin.
Selbst als 2010 eine erste Anzeige wegen Missbrauchs gegen ihn vorlag, schaffte es der Priester, mögliche Bedenken auszuräumen. Von sich aus erzählte er von der Anzeige, berichtete eine befreundete Mutter vor Gericht. Er habe die Anschuldigungen als „erstunken und erlogen“ dargestellt. Sie und ihr Mann hätten U. zu jener Zeit bei sich wohnen lassen, weil „es ihm so schlecht ging“, so die Mutter. Ihre beiden Töchter sollen ebenfalls von dem Geistlichen missbraucht worden sein, eine sogar im Gästezimmer des elterlichen Hauses.
Auch gegenüber dem Erzbistum Köln fuhr U. eine selbstbewusste Verteidigungslinie. Die Anzeigenstellerin – eine seiner Nichten – bezeichnete er als psychisch krank. Das Erzbistum beurlaubte U. dennoch. Nachdem die Nichte auf Druck ihrer Familie aber ihre Anzeige zurückzog, durfte er wieder als Krankenhauspfarrer arbeiten.
Zwei kirchliche Entscheidungsträger von 2010 sagten ebenfalls vor Gericht aus: Der heutige Hamburger Erzbischof und frühere Personalchef des Erzbistums Köln, Stefan Heße, und der ehemals oberste Kölner Kirchenrichter Günter Assenmacher. Während Heße Fehler einräumte, bestand Assenmacher darauf, dass weitergehende Recherchen gegen U. nicht seine Aufgabe gewesen seien. Die Entscheidungen des Kirchenrichters in der Sache fußten auf den zusammenfassenden Schilderungen einer Kollegin. In die Personalakte U.s habe er nie geschaut, sagte Assenmacher. Dabei hätte das Erzbistum mit „wenig Engagement“ viel über den Priester erfahren können, wie Richter Kaufmann darlegte.
2018 rollte die mittlerweile eingerichtete Interventionsstelle des Erzbistums Köln den Fall U. wieder auf. Seit 2019 sind dem Geistlichen die priesterlichen Dienste untersagt. Weil bis kurz vor diesem Verbot U.s unmittelbare Vorgesetzte in den Gemeinden nichts über dessen Vorgeschichte wussten, hatte er noch lange als Seelsorger Kontakt mit Kindern und Jugendlichen. Einer dieser Ex-Vorgesetzten meldete sich per Mail beim Landgericht. Er zeigte sich überzeugt davon, dass Bistumsverantwortliche spätestens ab 2010 Missbrauchstaten hätten verhindern können.