Der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) kritisiert das Muezzinruf-Projekt der Stadt Köln.
Düsseldorf – Der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) kritisiert das Muezzinruf-Projekt der Stadt Köln. „Ich habe die Sorge, dass damit möglicherweise mehr Streit in die Gesellschaft getragen als der Integration gedient wird“, sagte der Politiker am Dienstag im Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) in Düsseldorf. Seit dem Herbst können muslimische Gemeinden in Köln im Rahmen eines zweijährigen Modellprojekts den öffentlichen Ruf zum Freitagsgebet bei der Stadt beantragen. Unter anderem hat die Zentralmoschee dies getan.
Zweifelsohne falle der Muezzinruf unter die Religionsfreiheit, führte Wüst aus. Als Ergebnis einer Abwägung mit anderen Grundrechten werde aktuell jedoch nur sehr reduziert an einzelnen Orten von Moscheen zum Gebet gerufen. „Das hat in den vergangenen Jahren zu einer hohen gesellschaftlichen Befriedung dieses Themas geführt“, betonte der Regierungschef. „Ohne Not und Anlass, wie mir scheint, wird nun in Köln in diesen Frieden eingegriffen.“ Denn die Ankündigung der Stadt komme ja quasi einem Aufruf an alle Moscheegemeinden gleich, Anträge auf Einführung des Muezzinrufs zu stellen.
Die Vorgaben der Stadt Köln sehen vor, dass der Mueezinruf nur an Freitagen für maximal fünf Minuten erklingen darf. Die Lautstärke ist zu regulieren und die Nachbarschaft vorab zu informieren. Für Fragen und Beschwerde muss es in den Gemeinden eine Ansprechperson geben. Oberbürgermeisterin Henriette Reker (parteilos) sprach von einem Zeichen gegenseitiger Akzeptanz: „Wenn wir in unserer Stadt neben dem Kirchengeläut auch den Ruf des Muezzins hören, zeigt das, dass in Köln Vielfalt geschätzt und gelebt wird.“
Nach den Worten von Wüst sind die Muslime „ein wichtiger Teil unserer Gesellschaft“. Gerade in NRW lebten viele von ihnen seit mehreren Generationen. „Diese Realität gilt es anzuerkennen.“ Der von Ex-Bundespräsident Christian Wulff zitierte Satz „Der Islam gehört zu Deutschland“ habe schon 2010 eine Selbstverständlichkeit ausgedrückt, die bis dahin selten ausgesprochen worden sei.
Wüst zum „C“ in CDU, zu seinem Glauben und dem Muezzinruf – „Eine Gesellschaft ohne Kirche möchte ich mir nicht vorstellen“
Düsseldorf –Nordrhein-Westfalen wählt am 15. Mai ein neues Landesparlament. Für die CDU tritt Ministerpräsident Hendrik Wüst als Spitzenkandidat an. Wie er über das „C“ im Namen seiner Partei, den Missbrauch in der Kirche und den Muezzinruf in Köln denkt, sagte er am Dienstag in Düsseldorf im Interview.
Herr Wüst, seit fünf Monaten sind Sie Regierungschef in Nordrhein-Westfalen. Zu sehen ist ein Politiker, der Corona- und Flüchtlingskrise managen will und der auch mal gerne mit dem Rad fährt. Aber was Sie persönlich ausmacht – da wissen wir wenig. Was hat Sie in die Politik getrieben?
Wüst: Ausschlaggebend war ein besonderes Erlebnis als Jugendlicher: Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs habe ich mit 14 Jahren eine Reportage über die völlig unterernährten und ans Bett gefesselten Kinder in einem rumänischen Heim während der Ceausescu-Diktatur gesehen. Das hat mich sehr angefasst in meinem jugendlichen Gerechtigkeitssinn. Diese Erfahrung und der Wunsch, gestalten und etwas verändern zu wollen, hat mich zu einem politischen Menschen gemacht.
Warum musste es die Partei mit dem „C“ sein?
Wüst: In dem Alter war für mich ganz klar: Wenn das in Rumänien Sozialismus war, dann entscheide ich mich für die andere politische Richtung und trete in die Junge Union ein. Zudem stand die CDU für die Wiedervereinigung. Und im katholisch geprägten Münsterland ist der Weg zu den Christdemokraten nicht so weit. Ich bin überzeugter Christ und Christdemokrat.
Sie waren mal Messdiener. Was bedeuten Ihnen Glaube und Religion?
Wüst: Der Glaube ist Basis für grundlegende Entscheidungen. Ich bin christlich erzogen und mit diesem bodenständigen Wertefundament aufgewachsen. Im Jugendalter ließ das Interesse an Religion zeitweise etwas nach, da waren andere Dinge wichtiger – und ich blieb am Sonntagmorgen nach einer Feier auch schon mal lieber im Bett. Als ich 19 Jahre alt war, starb unsere Mutter – in dieser Ausnahmesituation hat mir mein Glaube Halt gegeben. Ich habe beeindruckende Geistliche getroffen und erlebt, die mir in dieser Situation und Trauer wirklich Trost spenden konnten. Für mich ist der Glaube Teil meines Alltags geworden, nicht frömmelnd, aber irgendwo da.
Aber die Kirche sorgt derzeit nicht für besonders gute Schlagzeilen…
Wüst: Der Missbrauchsskandal hat das Vertrauen in die Kirche massiv erschüttert. Eltern glaubten, dass ihre Kinder in der kirchlichen Jugendarbeit besonders gut aufgehoben sind – und das Gegenteil zeigte sich in diesen widerwärtige Taten an den Körpern und Seelen von Kindern. Auch in meiner Kirchengemeinde gab es solche schlimmen Fälle – ich kenne einzelne Betroffene.
Macht die Kirche genug bei der Aufarbeitung?
Wüst: Das kann und will ich nicht abschließend bewerten. Die Kirche braucht sicher noch einen langen Atem, um diese Missbrauchsskandale zu bewältigen. Trotzdem sage ich: Eine Gesellschaft ohne Glauben und ohne Kirche möchte ich mir nicht vorstellen.
Die Volkskirche bricht weg. Kann man mit dem „C“ überhaupt noch Mitglieder und Wähler gewinnen?
Wüst: Ja, das glaube ich schon. Das „C“ steht ja erst mal nicht für die Kirche, sondern für das christliche Menschenbild. Dieses begreift den Menschen nicht nur als arbeitendes und leistendes Wesen, sondern nimmt jeden mit seiner unteilbaren Menschenwürde an. Das ist doch eine Basis, die in der gegenwärtigen Politik gerade mehr und nicht weniger gefragt ist.
Noch mal zu den Kirchen: Sie erheben Kirchensteuern, unterhalten eigene Schulen und haben theologische Fakultäten an Unis. Kritiker sehen darin eine Privilegierung…
Wüst: Wir haben ein gut austariertes Verhältnis von Staat und Kirche. An diesen Grundfesten sollten wir nicht rütteln.
Ebenfalls umstritten sind die Staatsleistungen, die die Kirchen als Ausgleich für Enteignungen während der Säkularisierung erhalten – inzwischen bundesweit 590 Millionen Euro pro Jahr. Die Kirchen haben ihren grundsätzlichen Willen für eine Ablösung bekundet. Dann würde aber auf einen Schlag das Zehn- bis Zwanzigfache dieser Summe aus der Staatskasse fällig. Wie stehen Sie zu dem Thema?
Wüst: In Nordrhein-Westfalen belaufen sich die Staatsleistungen auf jährlich rund 23,5 Millionen Euro – und sind damit einigermaßen überschaubar. Deshalb wäre eine Ablösung sowohl für das Land als auch die Kirchen in Nordrhein-Westfalen verkraftbar. Die Kirchen in Nordrhein-Westfalen haben bereits angedeutet, gegebenenfalls eine Ablösung anzustreben. Verhandlungen über die Höhe einer Ablösung stehe ich deshalb aufgeschlossen gegenüber. Ich weiß jedoch, dass in anderen Bundesländern die Kirchen sehr stark auf die Staatsleistungen angewiesen sind oder dass Länder mit hohen Staatsleistungen ein Problem bei der Ablösung haben. Wichtig erscheint mir, dass eine mögliche Ablösung ganz im Sinne des Staat-Kirche-Verhältnisses in Deutschland partnerschaftlich erfolgt. Deshalb müssen die Länder und die Kirchen viel mehr als bisher in die Diskussion einbezogen werden.
Ein Dauerkonflikt sind die verkaufsoffenen Sonntage, die Gerichte regelmäßig kassieren.
Wüst: Mit dem Thema habe auch ich mich schon vor vielen Jahren in meiner Examensarbeit befasst. Ich stehe zum Sonntagsschutz. Dieser Grundsatz wird in meinem Verständnis auch nicht erschüttert, wenn man in Abstimmung und planbar auch mal einen verkaufsoffenen Sonntag zulässt. Darüber wurde und wird sehr hitzig diskutiert, was ich in der Vehemenz nicht immer ganz nachvollziehen kann. Wir alle wollen lebendige Innenstädte, viele Kunden nutzen solche Gelegenheiten. Und die Geschäfte und Läden in den Innenstädten tun sich im Wettbewerb mit dem Online-Handel immer schwerer.
Vor 15 Jahren haben Sie sich mit anderen Politikern – darunter Markus Söder – in einem Grundsatzpapier für eine „deutsche Leitkultur“ ausgesprochen, deren Grundlage „christlich-abendländische Werte“ sind. Ist das Papier für Sie heute noch maßgebend?
Wüst: Sie haben da jetzt einen Teil zum modernen bürgerlichen Konservatismus zitiert. Manches davon ist heute noch aktuell, manches ist aber auch vielleicht schon wieder überholt.
Können Sie den Satz „Der Islam gehört zu Deutschland“ von Ex-Bundespräsident Christian Wulff unterschreiben?
Wüst: Gerade in Nordrhein-Westfalen leben viele Muslime seit mehreren Generationen. Diese Realität gilt es anzuerkennen. Sie sind ein wichtiger Teil unserer Gesellschaft. Der vermeintliche Wulff-Satz drückte schon 2010 eine Selbstverständlichkeit aus, die bis dahin selten ausgesprochen worden war. Eigentlich war es übrigens der damalige Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble, der bereits vier Jahre vorher diesen Satz bei der Islamkonferenz prägte.
Wie finden Sie es, dass die Stadt Köln jetzt den Muezzinruf erlaubt?
Wüst: Zweifelsohne fällt der Muezzinruf unter die Religionsfreiheit. Als Ergebnis einer Abwägung mit anderen Grundrechten wird aktuell jedoch nur sehr reduziert an einzelnen Orten von Moscheen zum Gebet gerufen. Das hat in den vergangenen Jahren zu einer hohen gesellschaftlichen Befriedung dieses Themas geführt. Ohne Not und Anlass, wie mir scheint, wird nun in Köln in diesen Frieden eingegriffen. Denn die Ankündigung der Stadt kommt ja quasi einem Aufruf an alle Moscheegemeinden gleich, Anträge auf Einführung des Muezzinrufs zu stellen. Ich habe die Sorge, dass damit möglicherweise mehr Streit in die Gesellschaft getragen als der Integration gedient wird.
Der Antisemitismus in Deutschland wächst. Wie kriegt man das in den Griff?
Wüst: Gegenüber dem Judentum haben wir eine besondere Verpflichtung. Anfang April haben wir deshalb einen neuen Staatsvertrag mit den jüdischen Landesverbänden abgeschlossen. Dieser neue Staatsvertrag sieht unter anderem vor, dass das Land mehr für die Sicherheit jüdischer Einrichtungen bereitstellt, aber auch, dass wir das jüdische Leben noch intensiver fördern. Die Landesregierung hat mit Sabine Leutheusser-Schnarrenberger eine höchstanerkannte und engagierte Antisemitismusbeauftragte für Nordrhein-Westfalen eingesetzt, und nun auch Antisemitismusbeauftragte bei den Generalstaatsanwaltschaften und Staatsanwaltschaften eingerichtet. Und wir haben eine neue Meldestelle für antisemitische Vorfälle unterhalb der Strafbarkeitsgrenze geschaffen.
Die Bekämpfung des Antisemitismus hat für uns auf allen Ebenen höchste Priorität. Wir müssen das jüdische Leben in unserem Land noch stärker in den Fokus der Öffentlichkeit rücken, um antisemitischen Erzählungen zu begegnen. Das Festjahr 1.700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland im vergangenen Jahr war ein guter Anlass. Leider hat die Pandemie auch hier die Planungen etwas ausgebremst.
Sie wirken immer sehr kontrolliert – nur ja kein falsches Wort und nur ja kein deplatzierter Lacher. Früher als CDU-Generalsekretär in NRW galten sie als Haudrauf und Wadenbeißer. Ist ihnen das heute peinlich?
Wüst: Wir lernen alle aus unseren Erfahrungen, heute betrachte ich manches anders, reflektierter. Damals habe ich geglaubt, so agieren zu müssen. Heute würde ich jungen Menschen in vergleichbaren Ämtern davon abraten. Das ist auch der Erkenntnis geschuldet, dass unsere Demokratie verletzlich ist. Umso vorsichtiger und behutsamer muss der Umgang mit ihr und auch miteinander sein.