Augsburg. Der Augsburger Historiker Dietmar Süß kritisiert den Schweizer Kurienkardinal Kurt Koch für dessen NS-Vergleich in einem Zeitungsinterview. „Es gibt wahrlich keinen Grund, weshalb sich der Kurienkardinal am Ende als Opfer fühlen müsste“, sagte der ausgewiesene Experte der NS-Zeit und ihrer Aufarbeitung im Interview dem Neuen Ruhrwort.
Augsburg. Der Augsburger Historiker Dietmar Süß kritisiert den Schweizer Kurienkardinal Kurt Koch für dessen NS-Vergleich in einem Zeitungsinterview. „Es gibt wahrlich keinen Grund, weshalb sich der Kurienkardinal am Ende als Opfer fühlen müsste“, sagte der ausgewiesene Experte der NS-Zeit und ihrer Aufarbeitung im Interview dem Neuen Ruhrwort. „Ein größeres Problembewusstsein lässt seine nachgeschobene Erklärung nicht erkennen. Sie macht sein mangelndes historisches Gespür nur noch sichtbarer“, sagte Süß, der den Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Augsburg innehat.
Um zu illustrieren, wie riskant eine zeitgemäße Ausweitung der theologisch-dogmatischen Grundlagen der Kirche sein könne, hat Kurienkardinal Kurt Koch auf die „Deutschen Christen“ verwiesen. Im Nachhinein will er dies aber nicht als NS-Vergleich verstanden wissen. Abseits der theologischen Debatten: Wie beurteilen Sie als Historiker seine Worte?
Dietmar Süß: Dieser Versuch, Ähnlichkeiten zwischen gegenwärtigen innerkirchlichen Kontroversen und der Rolle der „Deutschen Christen“ während des „Dritten Reiches“ herzustellen, ist abenteuerlich und historisch falsch und, so scheint mir, eine ganz bewusste Provokation kirchlicher Reformkräfte. Die „Deutschen Christen“ waren ein offen antisemitischer, rassistischer und antidemokratischer Teil der protestantischen Kirche, die schon vor 1933 auf der Seite der völkischen Bewegung standen – und nach der „Machtergreifung“ zu Hitlers lautesten kirchlichen Unterstützen zählten. Es ist zutiefst denunziatorisch, hier Verbindungslinien zu innerkatholischen Reformdebatten der Gegenwart zu ziehen. Man kann das Interview nicht anders lesen, selbst wenn der Name „Synodaler Weg“ nicht fällt und der Kurienkardinal den Eindruck im Nachhinein zu verwischen versucht.
Koch hat später erklärt, die Reaktionen auf das Interview zeigten ihm, dass die Erinnerung an die NS-Zeit in Deutschland „offensichtlich tabu“ sei. Hat er also die Bedeutung der NS-Geschichte in Deutschland nicht verstanden?
Süß: Der Kurienkardinal ist das beste Beispiel dafür, dass es solche Tabus nicht gibt. Aber es gehört zu einer liberalen und offenen Gesellschaft, dass solch abstruse Thesen Widerspruch erfahren. Das ist ein gutes Zeichen. Es gibt wahrlich keinen Grund, weshalb sich der Kurienkardinal am Ende als Opfer fühlen müsste.
Warum greifen Leute immer wieder auf solche Vergleiche zurück? Und was sagt es über Koch aus?
Süß: Natürlich dienen solche Vergleiche vielfach in der politischen Kontroverse dazu, die politische Haltung des Gegenübers zu delegitimieren – das ist keineswegs neu. Weshalb der Kurienkardinal zu solchen Mitteln greift: Darüber lässt sich nur spekulieren. Aber seine Worte sind ganz offenkundig bewusst gewählt. Ein größeres Problembewusstsein lässt seine nachgeschobene Erklärung nicht erkennen. Sie macht sein mangelndes historisches Gespür nur noch sichtbarer.
Erst mit einer Aussage provozieren, und dann etwas nicht so gemeint haben wollen – das ist ein Handlungsmuster, das uns bei Rechtspopulisten begegnet. Kann man das einem Kurienkardinal durchgehen lassen? Müsste man da nicht mehr politische Sensibilität erwarten? Ist das Ausdruck klerikaler Entrücktheit?
Süß: Hier geht es schon lange nicht mehr um eine historische Bewertung, gar um das Verhältnis der Kirchen zum Nationalsozialismus. Das wäre spannend gewesen. Aber der Kurienkardinal wettert, wie manch anderer auch, wieder einmal gegen den ominösen „Zeitgeist“, der für alles Mögliche herhalten muss. „Entrückt“ ist das aus meiner Sicht nicht, sondern Teil einer politisch-theologischen Debatte um den Kurs, den wir in der katholischen Kirche in Deutschland erleben – um ein klerikales „Weiterso“ oder den Versuch, einer zeitgemäßen Antwort und einen kirchlichen Lernprozess insbesondere bei Fragen der Sexualmoral.
Wenn wir den Vergleich beiseitelassen, sagt Kardinal Koch ja, aus der Geschichte lernen zu wollen. Andererseits lehnt er Änderungen, die aus dem Dialog mit der Gegenwart entstehen ab, obwohl die Kirche in ihrer Entwicklungshistorie daran reich an Beispielen ist. Ein weiterer Beleg dafür, dass er die Geschichte nur instrumentalisiert?
Süß: Dass der Kurienkardinal Geschichte instrumentalisiert – und hier keineswegs in etwas hineingeraten ist – das ist aus meiner Sicht ziemlich eindeutig. Man staunt, wie weit manche inzwischen zu gehen bereit sind.