Die Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche führen aus Sicht des Freiburger Soziologen Michael Ebertz nicht zwingend zu mehr Kirchenaustritten.
Bonn/Freiburg – Die Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche führen aus Sicht des Freiburger Soziologen Michael Ebertz nicht zwingend zu mehr Kirchenaustritten. „Das finden die Leute schlimm, aber die Empörung hat kaum Austrittsrelevanz“, sagte Ebertz am Montag dem Internetportal katholisch.de. „Nur bei den wenigen mit starker Austrittsneigung kann ein Skandal dazu führen, dass sie die Kirche verlassen.“
Obwohl Qualität und Intensität lockerer würden, sei die Kirchenbindung in Deutschland generell noch sehr stabil, so Ebertz. Die überwiegende Mehrheit der Kirchenmitglieder fühle sich der Kirche verbunden, „weil das ein gewohnter, selbstverständlicher Teil ihrer Normalbiografie ist, den sie kaum hinterfragen“.
Ebertz verwies auf die absoluten Zahlen: Zuletzt traten rund 360.000 Menschen im Jahr aus der katholischen Kirche aus, aber mehr als 20 Millionen blieben. „Trotz institutionellem und moralischem Versagen des Systems Kirche und seiner Skandalisierung kehren sie ihr nicht den Rücken. Starke Austrittsneigungen haben nicht einmal zehn Prozent der Kirchenmitglieder“, so der Freiburger Wissenschaftler.
Er betonte zugleich, es gebe viele Mitglieder, die keine positiven Gefühle der Kirche gegenüber hätten, ihr aber faktisch angehörten. „Diese letztgenannte Gruppe lässt sich mit der Staatsbürgerschaft vergleichen. Viele Menschen sind Deutsche, fühlen dem Land gegenüber jedoch nichts“, erklärte Ebertz. „Die Kirche gehört zur Familie wie die Oma, deren altbackene Ansichten man vielleicht nicht teilt, deren Zugehörigkeit zum eigenen Leben aber nicht in Frage gestellt wird.“
Die These, dass junge Menschen, die zwischen 1995 und 2000 geboren sind, die erste nachchristliche Generation bilden, hält der Soziologe für überzogen. Die Bindung über Familie, Soziales und Rituelles bleibe auch bei jungen Leuten bestehen. „Das ist ein Leben im Spagat: Mit der kirchlichen Sexuallehre hat man keine Probleme mehr, man ignoriert sie, man teilt auch nicht alle Glaubenssätze, aber die Ethik und das Soziale findet man schon gut und man fühlt, dass es etwas Höheres gibt.“