Historiker: Die Diskussionsfronten sollten sich nicht verhärten

Der Historiker Holger Thünemann spricht im Interview mit dem Neuen Ruhrwort über die Bedeutung der Geschichtskultur und warnt vor einem Sog der Instrumentalisierung.
Münster. Welche Bedeutung hat die Geschichte in der Gegenwart und wie können wir aus ihr lernen? Sowohl in der aktuellen Diskussion um das Entfernen eines Kreuzes aus dem historischen Friedenssaal in Münster als auch in Fragen der Auseinandersetzung mit den Verbrechen der NS-Vergangenheit spiegeln sich diese Fragen, wie das Interview mit dem Historiker Holger Thünemann von der Universität Münster zeigt.

–Foto: Kalle Kröger/WWU Münster

Münster. Welche Bedeutung hat die Geschichte in der Gegenwart und wie können wir aus ihr lernen? Sowohl in der aktuellen Diskussion um das Entfernen eines Kreuzes aus dem historischen Friedenssaal in Münster als auch in Fragen der Auseinandersetzung mit den Verbrechen der NS-Vergangenheit spiegeln sich diese Fragen, wie das Interview mit dem Historiker Holger Thünemann von der Universität Münster zeigt.

Herr Thünemann, Sie sind an der Universität in Münster Inhaber des Lehrstuhls für Didaktik der Geschichte unter besonderer Berücksichtigung der Geschichtskultur. Zunächst einmal zur Begriffsklärung: Geschichtskultur und Erinnerungskultur kann man nicht in eins setzen und trotzdem kann man sie nicht voneinander trennen …

Holger Thünemann: Ja, Geschichtskultur ist der breitere Begriff, weil er unterschiedliche Zeitschichten in den Blick nimmt. Wenn wir zum Beispiel aktuell auf die anhaltenden Reaktionen zur Entfernung des Kreuzes aus dem historischen Friedenssaal hier in Münster schauen, wäre es sicherlich problematisch, von Erinnerungskultur zu sprechen. Denn wir beziehen uns auf eine Epoche, von der heutige Akteurinnen und Akteure keine persönlichen Erinnerungen mehr haben. Außerdem spielt für Geschichtskultur auch die wissenschaftliche Dimension eine zentrale Rolle.

Damit geben Sie ein wichtiges Stichwort, wenn Sie auf die persönliche Erinnerung hinweisen: Wir sprechen am 9. November. Mit Blick auf die Pogrome 1938 stehen wir gerade in einer gewissen erinnerungskulturellen Umbruchphase. Der Abschied von der unmittelbaren Zeitzeugenschaft steht bevor.

Thünemann: In der Tat, der 9. November 1938 liegt inzwischen 84 Jahre zurück, und wir nähern uns dem Punkt, an dem die Epoche der Mitlebenden – das ist ja die klassische Definition von Zeitgeschichte – endet. Auf der anderen Seite ist dies ein interessantes Beispiel dafür, dass es Vergangenheiten gibt, die unverändert eine so hohe Relevanz haben, dass sie bis in die gegenwärtige geschichts- und erinnerungskulturelle Auseinandersetzung sehr intensiv hineinreichen. Die Frage ist natürlich, wie das in den nächsten Jahren und Jahrzehnten weitergeht. In Deutschland und Europa sind wir uns zum Glück weitgehend einig, dass die kritische Auseinandersetzung mit der NS-Zeit unverändert wichtig bleibt. Welche geschichtskulturellen Formate dies möglich machen können, dies ist in der Tat in der Diskussion.

In Berlin gibt es heute eine Tagung mit dem Titel „Wie erinnern wir den 9. November? Ein Tag zwischen Pogrom und demokratischen Aufbrüchen“. Dies verweist darauf, dass dieses Datum in der deutschen Geschichte von 1848 bis 1989 mehrere Referenzpunkte anbietet.

Thünemann: Am Beispiel des 9. Novembers lässt sich sehr gut deutlich machen, was das Konzept der Geschichtskultur leisten kann, weil wir es nicht nur mit Daten zu tun haben, die in der persönlichen Erinnerung noch präsent sind, also 1938 und vor allem 1989, sondern auch 1918 und 1848. Diese unterschiedlichen Bezüge – Achim Landwehr würde das Pluritemporalität nennen – verdichten sich in diesem Datum.

„Die NS-Vergangenheit wird weit über die Epoche der Mitlebenden hinaus eine große Relevanz behalten und nicht verdrängt werden“

Könnte die Wahrnehmung des Jahres 1938 dadurch dauerhaft überlagert werden?

Thünemann: Auf einer allgemeinen Ebene kann man diese Frage mit dem Anlass im Friedenssaal verbinden: Wir stehen immer vor der Herausforderung, dass wir in gewissen Situationen möglicherweise dazu neigen, historische Bezüge zu überschreiben, zumindest temporär unsichtbar zu machen, wie es ja hier geschehen ist. Wozu es aber auf keinen Fall kommen darf, ist, dass eine Ausweitung der geschichtskulturellen Auseinandersetzung mit dem 9. November sich auf Aspekte einer positiven Identitätsstiftung beschränkt und die negativen Punkte dauerhaft ausblendet.

Es gibt ja gewisse Konjunkturen zu den jeweils runden Daten des Gedenkens, an denen dann diejenigen historischen Bezüge besonders in den Mittelpunkt gestellt werden, die sich aufgrund der Jahreszahl anbieten. Es sind also keine Überschneidungen zu erwarten, wenn wir auf die Jahre 1938 und 1989 schauen. Ich glaube jedenfalls nicht, dass wir in eine Situation kommen, in der der 9. November 1938 keine Rolle mehr spielen wird. Die NS-Vergangenheit wird weit über die Epoche der Mitlebenden hinaus eine große Relevanz behalten und nicht verdrängt werden. Dafür ist die Gegenwartsbedeutung des Themas – Stichwort Antisemitismus – viel zu groß.

Wie hat sich der gesellschaftliche Umgang mit Geschichte verändert?

Thünemann: Was man in Rechnung stellen muss, ist, dass sich Geschichtskulturen immer stärker pluralisieren. Auf der einen Seite verändert sich unsere Gesellschaft und wird pluraler. Das trägt dazu bei, dass sich Geschichtskultur als vermeintliche Einheit, die sie tatsächlich aber nie war, immer weiter auflösen und pluralisieren wird. Auf der anderen Seite beginnt sich Geschichtskultur dadurch zu verändern, dass wir mehr denn je die Möglichkeit haben, uns im digitalen Raum auf unterschiedlichste historische Epochen zu beziehen.

„Dann würde das positive Anliegen der Konflikt- und Krisenbewältigung an diesem Ort dadurch konterkariert, dass wir uns in eine Kontroverse hineinbegeben, aus der wir nicht mehr so leicht herauskommen.“

Was sagt die Entfernung des Kreuzes in Münster über den Umgang mit Geschichte aus. Wird Geschichte auch hier instrumentalisiert?

Thünemann: Das betrifft nicht zuletzt die Frage, ob dies zufällig oder absichtlich geschehen ist. Offenbar stand ja keine Absicht dahinter. Jedenfalls sollten wir uns darüber Gedanken machen, was passiert, wenn wir Teile von Geschichte zumindest temporär unsichtbar machen, einen bestimmten Zeitbezug ausblenden. Das hat offenbar Signalwirkung. Wie ich hier in Münster zum Beispiel an einer Vielzahl von Leserbriefen in den Westfälischen Nachrichten ablesen kann, wird das Thema nach wie vor sehr intensiv diskutiert. Dabei sollten sich die Diskussionsfronten aber nicht verhärten. Dann würde das positive Anliegen der Konflikt- und Krisenbewältigung an diesem Ort dadurch konterkariert, dass wir uns in eine Kontroverse hineinbegeben, aus der wir nicht mehr so leicht herauskommen. Das ist – gerade angesichts der aktuellen weltpolitischen Lage – nicht hilfreich.

Wenn es keine Absicht war, war es vielleicht unbedarft …

Thünemann: Jedenfalls fehlte die notwendige geschichtskulturelle Kompetenz. Wer sie hat, weiß, dass es keine gute Idee ist, solch ein Symbol unsichtbar zu machen. Welches Signal wird dadurch ins In- und Ausland gesendet? Zum Beispiel auch nach Russland? Solche Signale können dann – sicher ungewollt – dazu beitragen, dass Geschichte in den Sog der Instrumentalisierung gerät. Das sollten wir vermeiden. Und zugleich sollten wir die aktuelle Diskussion daher so sachlich wie möglich führen.

Interview: Boris Spernol