Der Münsteraner Staatsrechtler Bodo Pieroth übt heftige Kritik am Vorgehen des Staates bei den Verhandlungen zur Ablösung von historisch bedingten Staatskirchenleistungen.
Berlin – Der Münsteraner Staatsrechtler Bodo Pieroth übt heftige Kritik am Vorgehen des Staates bei den Verhandlungen zur Ablösung von historisch bedingten Staatskirchenleistungen. „Parlament und Regierung sollten sich darauf besinnen, dass sie die Interessen aller Bürger zu vertreten haben, also auch die der konfessionslosen Mehrheit sowie der zahlreichen Kirchenmitglieder, die für das Andauern der anachronistischen Staatsleistungen keinerlei Verständnis mehr haben“, sagte der emeritierte Direktor des Instituts für Öffentliches Recht und Politik an der Universität Münster im Interview der „Welt“ (Dienstag online).
Pieroth sagte, die über die Jahrhunderte geleisteten Entschädigungszahlungen an die Kirchen überschritten bei weitem den Wert des ehemals entzogenen kirchlichen Vermögens. „Ein Sachverständigengutachten in der letzten Legislaturperiode ging davon aus, dass die Kirchen bei angenommener dreiprozentiger jährlicher Verzinsung über die letzten 100 Jahre das 194-Fache und bei fünfprozentiger Verzinsung das 603-Fache des ursprünglich entzogenen Wertes erhalten haben – wohlgemerkt aus allgemeinen Steuermitteln.“
Die Ampel-Koalition will die Staatsleistungen zwar beenden, doch das zwischen Bundesinnenministerium und Kirchenvertretern ausgehandelte Modell wurde von sämtlichen betroffenen Bundesländern bereits als unfinanzierbar abgelehnt. Es sieht vor, dass die Kirchen einmalig das 17- bis 18-Fache der jährlichen Zahlungen erhalten, und diese außerdem noch zehn bis 20 Jahre weiter fließen sollen.
Pieroth sagte dazu, dieser Vorschlag sei nicht nur viel zu großzügig gegenüber den Kirchen, sondern „geradezu verfassungswidrig“. Offenbar habe der Staat sich bei den Verhandlungen auf ein für diesen Fall nicht anwendbares Modell für Entschädigungsleistungen eingelassen, so der Jurist. „Dem jetzigen Vorschlag liegt offenbar die Vorstellung zugrunde, dass es sich bei den Staatsleistungen um sogenannte immerwährende Leistungen handelt. Der Ablösewert solcher Leistungen beträgt nach dem Bewertungsgesetz das 18,6-Fache ihrer jährlichen Höhe.“ Demgegenüber kenne das Bewertungsgesetz auch noch Leistungen von unbestimmter Dauer, bei denen feststehe, dass sie wegfallen werden. Hier betrage der Ablösefaktor lediglich 9,3.
Dieser Faktor könne angesichts der extrem langen Dauer der Entschädigungszahlungen weiter gekürzt werden, so Pieroth. Auch der Rückgang der Religionszugehörigkeit in der Bevölkerung und die grundsätzliche Trennung von Staat und Kirche könnten einberechnet werden.
„Ganz besonders großzügig und außerdem verfassungswidrig wird der Vorschlag dadurch, dass zusätzlich zu der hohen Einmalzahlung auch noch die regulären jährlichen Zahlungen für zehn bis 20 Jahre weiterlaufen sollen“, fügte der Rechtsexperte hinzu. „Das widerspricht dem Rechtsgehalt sowie dem Sinn und Zweck der Ablösung, die diese Zahlungen ja gerade beenden und nicht für weitere Jahrzehnte verstetigen soll.“
Die Bundesländer zahlen den Kirchen Jahr für Jahr sogenannte Staatsleistungen, zuletzt 602 Millionen Euro, wegen Enteignungen, die zum Teil bereits über 500 Jahre zurückliegen. Davon gehen rund 60 Prozent an die evangelischen Landeskirchen. Die Ampelkoalition muss auf Bundesebene einen gesetzlichen Rahmen dafür schaffen, dass die Staatsleistungen auf Landesebene abgelöst werden. Die Kirchen stehen dem offen gegenüber.
Die Staatsleistungen für die katholische Kirche gehen zumeist auf das Jahr 1803 zurück, als Kirchengüter enteignet wurden. Sie umfassen Geld- oder Sachmittel, in manchen Fällen auch die Übernahme der Besoldung von Bischöfen und Domherren sowie Zuschüsse zu Pfarrergehältern. Bei der evangelischen Kirche gehen die Leistungen laut Zeitung oft auf das 16. Jahrhundert zurück, als nach der Reformation Klöster aufgelöst und Bischöfe abgesetzt wurden und große kirchliche Güter an die Landesherren fielen.