Altbundespräsident Joachim Gauck fordert von den demokratischen Parteien mehr Verständnis für Verunsicherungen in der Bevölkerung.
München/Leipzig – Altbundespräsident Joachim Gauck fordert von den demokratischen Parteien mehr Verständnis für Verunsicherungen in der Bevölkerung. Sie dürften Themen nicht ignorieren, „die nennenswerte Bevölkerungsgruppen verunsichern. Sie müssen und können sie als Wähler zurückgewinnen“, sagte Gauck im Interview der „Süddeutschen Zeitung“ (Donnerstag). Längst nicht alle Menschen, die etwa die AfD wählten, seien Faschisten.
Gauck: Keine Übernahme national-populistischer Vorstellungen
Zugleich betonte Gauck, dass es dabei nicht um eine Übernahme national-populistischer Vorstellungen gehe. Er warnte: „Es droht eine Drift hin zum Extremen, wenn Ängste der Menschen von demokratischen Parteien nicht ernst genommen werden.“
Am Donnerstag stellt er auf der Leipziger Buchmesse sein neues Buch „Erschütterungen: Was unsere Demokratie von außen und innen bedroht“ vor. Darin geht er mit Co-Autorin Helga Hirsch der Frage nach, weshalb das Vertrauen vieler Menschen in die liberale Demokratie erschüttert ist.
„Selbstentfaltung endet aber immer dort, wo sie die Selbstentfaltung des anderen behindert.“
Gauck sagte der Zeitung, er stelle Defizite bei Menschen fest, die die Freiheit liebten, aber eine egozentrische Form der Freiheit lebten. „Selbstentfaltung endet aber immer dort, wo sie die Selbstentfaltung des anderen behindert.“ Der Altbundespräsident riet: „Wir müssen immer einen Weg suchen zwischen dem Frust und den Ängsten der einen und den fast missionarischen Absichten der Erneuerer.“
Nicht alle Menschen passten sich „in gleichem Umfang und in gleichem Tempo dem forcierten Wandel, den technischen Innovationen und den neuen geopolitischen Realitäten“ an. Manche Menschen flüchteten sich in unpolitischen Individualismus. „Sie setzen dem Stress des Wandels etwas entgegen, das die Psyche nähren soll.“
Ansammlung von Selbstverständlichkeiten und Verwerfungsfuror
Die liberale Demokratie habe für Teile der Gesellschaft die Kraft verloren, „die Seelen zu nähren“, kritisierte Gauck. „Das Leben gerät den einen zur Ansammlung von Selbstverständlichkeiten in Frieden und Wohlstand. Andere addieren nur die Frustfaktoren und schüren damit einen Verwerfungsfuror. Es wird dabei schwer zu erkennen, dass die liberale Demokratie unsere Welt der Möglichkeiten erst geschaffen hat und weiter schafft.“