Der Chefankläger im US-Bundesstaat Illinois hat sieben Jahrzehnte Missbrauch in katholischen Bistümern dokumentiert. Die Befunde sind einmal mehr abgründig. Immerhin: Für die Zukunft sieht der Ankläger Anlass für Hoffnung.
Washington/Chicago – Father Francis Kelly benutzte immer die gleichen Tricks. Er fuhr mit seinem Opfer ins Drive-in-Kino, lud sie ins Pfarrhaus ein und bot ihnen Bier an. Danach verging er sich an den Minderjährigen. So geschehen auch bei einem Mann, der sich im Büro des Chefanklägers von Illinois meldete, als er hörte, dass Kwame Raoul an einem Missbrauchsbericht über die katholische Kirche arbeitet. Er sei damals elf Jahre alt gewesen, berichtete das mutmaßliche Opfer. Father Kelly habe ihn, den damaligen Messdiener, gezielt ausgesucht.
Offenbar hat der Priester in den 60er und 70er Jahren mindestens 20 Jungen zwischen 11 und 17 Jahren sexuell missbraucht. Das Erzbistum Chicago versetzte ihn mehrere Male in andere Pfarreien; es gibt an, erstmals 1992 von entsprechenden Vorwürfen erfahren zu haben. Damals war Father Kelly bereits zwei Jahre tot. Auf der offiziellen Täterliste des Erzbistums steht er seit 2018.
Der „Fall Kelly“ ist einer von insgesamt 451 Geistlichen und Ordensleuten, die in dem am Dienstag (Ortszeit) von Generalstaatsanwalt Raoul vorgestellten Bericht glaubhaft des sexuellen Missbrauchs an Minderjährigen beschuldigt werden. Das sind viermal so viele Täter, wie die Kirche selbst benannt hat, seit sie 2018 begann, eine eigene Liste aufzustellen. Erschreckend hoch auch die Zahl der Opfer, die der Chefankläger mit 1.997 beziffert.
„Es ist meine Hoffnung, dass dieser Bericht einen Scheinwerfer auf jene richtet, die ihre Machtposition und Vertrauen ausgenutzt haben, um unschuldige Kinder zu missbrauchen, und auf die Männer in der Kirchenführung, die diesen Missbrauch verdeckt haben“, so Raoul. Er räumte ein, dass viele der Täter „niemals vor einem Gericht zur Rechenschaft gezogen werden“ könnten; entweder weil sie bereits gestorben oder ihre Taten verjährt seien. Dennoch bleibe es wichtig, ihre Namen publik zu machen, „um den Opfern beim Heilen zu helfen, die so lange im Stillen gelitten haben“.
Chicagos Erzbischof, Kardinal Blase Cupich, bezeichnete die dokumentierten Missbräuche in seiner Kirche als widerlich. Er hoffe, „dass die Veröffentlichung dieses Reports eine Gelegenheit für den Generalstaatsanwalt sein wird, alle Erwachsenen zu mobilisieren, Kinder zu schützen“, erklärte Cupich für die sechs Diözesen; und: „Ich bin bereit, weiter meinen Teil dazu beizutragen.“
Der Chefankläger lobte den Kardinal; Cupich sei „ein Anführer in der neuen Ära des Umgangs mit Missbrauchsvorwürfen“. Bereits unter seinem Vor-Vorgänger Kardinal Joseph Bernadin (1982-1996) hatte Chicago als eine der ersten Erzbistümer eine Laien-Kommission eingesetzt, die Missbrauchsvorwürfen in der Kirche nachgehen sollte. Allerdings sei die Kirche oft genug nicht ihren eigenen Ansprüchen gerecht geworden, so der Bericht.
Das betonen auch Vertreter von Opferverbänden. „Dieser Bericht zeigt uns klar, dass niemand mehr über Missbrauch wusste und niemand weniger getan hat als die Diözesen selbst“, erklärte Mike McDonnell von der Betroffenen-Organisation SNAP. Die Studie helfe nun Gemeinden, den Horror ihrer Vergangenheit und die Risiken der Gegenwart zu verstehen.
Die Arbeit an dem Bericht für Illinois begann nach Vorlage des ersten bundesstaatlichen Missbrauchsreports 2018 in Pennsylvania. Eine Grand Jury hatte damals 300 Täter benannt, die über 70 Jahre mehr als 1.000 Minderjährige missbraucht hatten. Raouls Vorgängerin Lisa Madigan motivierte das, in dem ebenfalls stark katholisch mitgeprägten Staat im Mittleren Westen zu ermitteln. Die rund 3,5 Millionen Katholiken machen etwas mehr als ein Viertel der Bevölkerung aus.
Kurz vor ihrem Ausscheiden aus dem Amt gab Madigan einen harschen Zwischenbericht ab. Und ihr Nachfolger setzte die Ermittlungen mit einem Team von 25 Mitarbeitern fort, die mehr als 100.000 Dokumente aus den Archiven der sechs Bistümer des Bundesstaates sichteten und mehr als 600 vertrauliche Interviews mit Betroffenen führten.
Der Abschlussbericht betont, dass hinter den Zahlen individuelle Schicksale stehen. Er zitiert ein Opfer mit dem Namen „David“, das berichtet, wie der sexuelle Missbrauch durch einen Priester sein Leben ruiniert habe; seelisch, finanziell und mental. Andere sprechen von jahrelangem Ringen mit Angstzuständen, Schuld, Suizidversuchen, Abhängigkeit, Depression, posttraumatischem Stress, sexuellen Problemen und Beziehungsunfähigkeit. Chefankläger Raoul sagt, das wichtigste, was die Aufarbeitung leisten könne, sei die Anerkennung von Unrecht. Er sagt: „Wir geben den Opfern eine Stimme.“