Kachowka-Staudamm: Kirchen verurteilen Kreml

Bisher steht noch nicht fest, wer für die Zerstörung des Kachowka-Staudamms verantwortlich ist. Aus Sicht der EU und von Kirchen in der Ukraine steckt Russland dahinter. Hinzu kommen Sorgen um das nahe Atomkraftwerk.

Swjatoslaw Schewtschuk. –Foto: Kirche in Not

Nach der Zerstörung des Kachowka-Staudamms nahe dem ukrainischen Cherson erhebt die EU schwere Vorwürfe gegen Russland. Der Außenbeauftragte Josep Borrell, der EU-Kommissar für Krisenmanagement, Janez Lenarcic, sowie Religionsführer in der Ukraine verurteilten den Angriff in scharfer Form.

Die Zerstörung des Staudamms stelle eine „neue Dimension russischer Gräueltaten“ und möglicherweise ein Kriegsverbrechen dar, erklärten die EU-Vertreter am Dienstag in Brüssel. Die durch den Dammbruch ausgelöste Flutwelle gefährde das Leben von Hunderttausenden Zivilisten in Ortschaften entlang des Dnipro, auch in der Stadt Cherson. Das Hochwasser verschlimmere die ohnehin schon katastrophale humanitäre Lage in diesen Gebieten. Besorgt äußerte sich die EU auch über die Folgen für das Kernkraftwerk Saporischschja, das aus dem Kachowka-Stausee Kühlwasser bezieht.

Russland setze mit einer Verzweiflungstat sein „rücksichtsloses nukleares Hasardspiel“ fort, indem es die Sicherheit des Kraftwerks gefährde, hieß es. Das Handeln verstoße eindeutig gegen Grundsätze und Beschlüsse der Internationalen Atomenergiebehörde. Das sei unverantwortlich und völlig inakzeptabel. Borrell und Lenarcic sicherten der Ukraine Hilfe im Rahmen des EU-Katastrophenschutzverfahrens zu, auch etwa mit Nahrungsmitteln und Trinkwasser. Man stehe mit den ukrainischen Behörden und dem Katastrophenschutz in Kontakt.

Kiew und Moskau beschuldigen sich gegenseitig, den Staudamm in der Region Cherson im Südosten der Ukraine zerstört zu haben. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj will Informationen darüber haben, dass russische Einheiten den Staudamm in der Nacht zum Dienstag gegen 02.50 Uhr gesprengt hätten. Das am Stausee gelegene Atomkraftwerk Saporischschja wird wie das Wasserkraftwerk mit dem Staudamm seit mehr als einem Jahr von den Russen kontrolliert.

Das Oberhaupt der Orthodoxen Kirche der Ukraine, Metropolit Epiphanius, twitterte als Reaktion auf die Zerstörung des Staudamms: „Für das Leid, das vergossene Blut und den Tod Unschuldiger erwartet den Kreml-Tyrannen und alle, die seine verbrecherischen Befehle befolgen, die Verfluchung und die ewige Verdammnis mit dem Teufel und seinen Dienern.“ Die Überflutung der Region stelle eine tödliche Gefahr für Hunderttausende Menschen dar, schrieb er.

Der griechisch-katholische Großerzbischof Swjatoslaw Schewtschuk warf Russland vor, „seine Völkermord-Aggression“ fortzusetzen. Die Zerstörung des Wasserkraftwerks mit dem Staudamm sei ein „weiteres Kriegsverbrechen“, so das Oberhaupt der mit Rom verbundenen Kirche auf Facebook. Die römisch-katholische Kirch in der Ukraine schrieb auf Twitter, Russland habe das Wasserkraftwerk gesprengt: „Der Terrorist nutzt jede Methode, um seine Ziele zu erreichen.“ Die Religionsgemeinschaften riefen zum Gebet für alle Menschen auf, die jetzt in Gefahr seien. Der Oberrabbiner des Landes, Moshe Azman, schrieb am Dienstag auf Twitter, „russische Terroristen“ hätten eine „ökologische Katastophe“ angerichtet.

Unterdessen leitete Caritas international erste Hilfsmaßnahmen in dem betroffenen Gebiet ein. Die Organisation rechnet damit, dass viele Menschen nach Odessa fliehen wollen. Der größte Hilfsbedarf besteht demnach bei Trinkwasser, Nahrung und Unterkünften. Das Ausmaß der Katastrophe zu erfassen, hält das katholische Katastrophenhilfswerk aktuell für sehr schwierig. Als direkt gefährdet gelten 16.000 Menschen.

Bischof von Odessa: Dammzerstörung „unvorstellbare Katastrophe“

Von einer „unvorstellbar katastrophalen Lage“ im Gebiet Cherson nach der Zerstörung des ukrainischen Kachowka-Staudammes berichtet der zuständige katholische Bischof von Odessa, Stanislaw Szyrokoradiuk. Die Häuser von 20.000 Menschen stünden bereits unter Wasser; erst 2.000 von ihnen seien bislang evakuiert, sagte der Franziskaner am Dienstagabend telefonisch der Presseagentur Kathpress. Die wirtschaftlichen und ökologischen Folgen seien kaum abzuschätzen; die humanitäre Not sei enorm. „In der ganzen Region ist die bevorstehende Mais- und Getreideernte vernichtet, und es gibt kein Trinkwasser mehr“, so der Bischof.

Noch immer steige in den Ortschaften unterhalb des Stausees – darunter auch in niedrigen Zonen der Provinzhauptstadt Cherson – das Wasser, „in manchen Teilen schon auf über drei Meter“, berichtete Szyrokoradiuk. Er sei in ständigem Kontakt mit Priestern, deren Pfarren direkt betroffen seien und der Bevölkerung mit beschränkten Möglichkeiten zu helfen versuchten. Die Menschen hätten sich im Verlauf des Tages an Erhebungen versammelt und warteten auf ihre Evakuierung. „Das Wasser aus dem See kommt weiterhin; man rechnet, dass der Pegel mindestens bis Mittwoch weiter steigt“, so der Bischof.

„Ganz eindeutig“ macht er die Russen die Verursacher der Kraftwerks-Zerstörung aus. „Die Befürchtung, dass es zu diesem Schritt kommen würde, gab es schon im vergangenen Jahr, als die Besatzer Minen in den Damm einließen. Alle in der Ukraine warteten mit großer Sorge, wann die Sprengung erfolgen würde.“ Nun solle die Sprengung die anlaufende ukrainische Gegenoffensive stören, so Szyrokoradiuk.

Dass Russland zu diesem Schritt fähig sein würde, überrasche ihn nicht. „Der russische Terror und der Völkermord an der Ukraine gehen weiter. Alles, was die Ukraine hat, muss aus russischer Sicht vernichtet werden“, sagte der Bischof. Es sei zu befürchten, dass es selbst bei den ukrainischen Atomkraftwerken keine Rote Linie geben werde.

Pessimistisch bewertet der Bischof von Odessa die derzeitigen vatikanischen Friedensbemühungen. Erst am Dienstagnachmittag hatte der päpstliche Sondergesandte Kardinal Matteo Zuppi in Kiew Präsident Wolodymyr Selenskyj getroffen. Der ukrainische Staatschef verfolge einen anderen Plan als Papst Franziskus, so die Einschätzung Szyrokoradiuks. „Selenskyj hat aufgezeigt, wie ein Friedensplan für die Ukraine aussehen kann. Vom Vatikan aus kann man vielleicht träumen, von Washington aus noch leichter.“ Eine Waffenruhe würde dem russischen Aggressor jedoch nur Zeit verschaffen, um sich wieder weiter für einen neuen Angriff auf die Ukraine aufzurüsten, so die Einschätzung des Bischofs.

Ein „wahrer Friede“ müsse unverzichtbar mit der Sicherstellung von dauerhafter Freiheit verbunden sein. Dies könne nur über einen Sieg der Ukraine über den Angreifer gelingen, befand der Bischof. Er hoffe, dass die Welt dies nach der Sprengung des Staudamms endlich erkenne.

Kiew wie Moskau beschuldigen die jeweils andere Kriegspartei, den im Südosten der Ukraine gelegenen Kachowka-Staudamm in der Nacht zum Dienstag zerstört zu haben. In dem zur Region Cherson gehörenden Überschwemmungsgebiet des Kachowka-Damms, der Anfang der 1950er Jahre über den Dnipro-Fluss errichtet wurde, liegen rund 80 Ortschaften.

Der von der Explosion in Bewegung gesetzte Stausee war mit 230 Kilometer Länge und bis zu 9,4 Kilometer Breite rund viermal so groß wie der Bodensee. Er fasste 18 Kubikkilometer Wasser, die nun in Richtung Schwarzes Meer strömen. An dem Stausee liegt das AKW Saporischschja. Es wird wie das Wasserkraftwerk mit dem Staudamm seit mehr als einem Jahr von russischen Besatzern kontrolliert.

rwm/kna