Krieg und Klimakrise, ständige Erreichbarkeit, aber vor allem die eigenen Erwartungen: Diese Faktoren sorgen bei immer mehr Menschen für dauerhaften Stress. Fachleute schlagen Alarm – und haben konkrete Forderungen.
Hannover – Stress betrifft die Menschen in Deutschland offenbar immer häufiger: 43 Prozent sind häufig oder sehr häufig gestresst – und bei 54 Prozent ist diese Belastung in den vergangenen zwei Jahren gestiegen. Das geht aus einer repräsentativen Umfrage hervor, die die Kaufmännische Krankenkasse KKH kürzlich vorstellte. Stress werde häufig als Begleiterscheinung des Alltags oder gar als Statussymbol wahrgenommen, sagt Medizinerin Sonja Hermeneit. „Gefährlich wird es jedoch, wenn die Erholungsphasen fehlen. Dann sprechen wir von Dauerstress, der auch das Herz-Kreislauf-System belastet.“ Es sei noch nicht in den Köpfen angekommen, dass Stress ein ähnliches Risiko berge wie Bewegungsmangel, Rauchen oder falsche Ernährung.
Insbesondere jüngere Menschen hielten sich selbst zwar häufig für unempfindlich, doch auch in dieser Altersgruppe sei eine zunehmende Zahl von Personen etwa von Bluthochdruck betroffen. Es sei eine neue Entwicklung, dass Berufstätige zwischen 20 und 30 Jahren vermehrt unter Stress litten, sagt der Psychokardiologe Kai G. Kahl. Viele Menschen in diesem Alter fänden im Job keinen Anschluss – und seien dabei gesundheitlich unterversorgt. „Das müssen wir ernstnehmen“, mahnt der leitende Oberarzt der Medizinischen Hochschule Hannover.
Zunahme von psychischen Diagnosen sowie von entsprechenden Krankschreibungen
Ebenfalls stark betroffen sind demnach Menschen über 55 Jahren, die ihren Job verloren haben. „In diesem Alter ist es in der Leistungsgesellschaft schwierig, eine neue Stelle zu finden“, erklärt Kahl. Neben denjenigen um die 30 sei in dieser Lebensphase der Anteil an depressiv Erkrankten am höchsten. Die seelische Gesundheit muss in künftigen Krisen stärker berücksichtigt werden – das fordert auch die Deutsche Psychotherapeuten-Vereinigung. „Wir sollten die seelische Gesundheit immer mitdenken“, sagt der stellvertretende Bundesvorsitzende Enno Maaß. Bis 2030 wird eine Steigerung der Nachfrage nach psychotherapeutischer Behandlung um 23 Prozent erwartet, heißt es unter Berufung auf das Zentralinstitut der kassenärztlichen Vereinigung.
Nach einer Erhebung der Vereinigung übersteigt der „ukraine-spezifische Stress“ leicht den „corona-spezifischen Stress“. Angesichts beider Anlässe berichteten Menschen von Stress – bezüglich des Kriegs in der Ukraine liegt der Mittelwert demnach bei 2,8, bezüglich der Pandemie bei 2,7. Daten von Krankenkassen zeigen zudem eine Zunahme von psychischen Diagnosen sowie von entsprechenden Krankschreibungen. Insbesondere Einsamkeit habe während der Pandemie zu emotionaler Erschöpfung beigetragen: Sie stehe in direktem Zusammenhang mit schlechterer psychischer Gesundheit, so Maas.
Umgekehrt ziehen sich gestresste Menschen laut Mediziner Kahl mitunter in die Isolation zurück: So werde Einsamkeit zu einem „riesigen Problem“ in einer Gesellschaft, die immer älter werde. Und Stress spiele sich nachweislich nicht nur im Kopf ab: Vielmehr übertrage er sich in körperliche Reaktionen, die etwa Herzinfarkte, Herz-Rhythmus-Störungen und Herzinsuffizienz begünstigten.
„Die beste Stress-Prävention beginnt bei einer glücklichen Kindheit“
Hermeneit dringt auf vielfältige und individuelle Angebote zur Stress-Prävention. Wichtig sei, dass Ärztinnen und Ärzte das Thema gezielt ansprächen; ebenso müsse es Bestandteil betrieblicher Gesundheitsförderung sein. „Wir hoffen, dass wir die Stressspirale stoppen können, bevor es ein Herzinfarkt gewaltsam tut.“ Vorbeugende Maßnahmen braucht es nach Worten Kahls bereits für die Jüngsten: „Die beste Stress-Prävention beginnt bei einer glücklichen Kindheit.“ Ihre psychische Widerstandsfähigkeit müsse gestärkt werden.
Die sozialen Netzwerke bezeichnet Kahl als „zweischneidiges Schwert“. In der Corona-Zeit hätten sie wahrscheinliche „eine psychologische Katastrophe“ verhindert, da sie Kontakte ermöglicht hätten, als persönliche Treffen nur eingeschränkt erlaubt waren. Der soziale Druck zur Selbstoptimierung führe jedoch zu neuen Krankheitsbildern: So meldeten sich inzwischen Patientinnen und Patienten, die dem Bild, das sie von sich selbst im Netz geschaffen hätten, nicht gerecht werden könnten.