Schuster: In Deutschland ist etwas aus den Fugen geraten

Man kann kaum anders, als bei diesem Gedenken an die von den Nazis gelenkten Novemberpogrome auch an den 7. Oktober dieses Jahres zu denken. Der Präsident des Zentralrats der Juden spricht vom „Pogrom unserer Zeit“.
Schuster: In Deutschland ist etwas aus den Fugen geraten

Präsident Dr. Josef Schuster (Foto: Thomas Lohnes für Zentralrat der Juden)

Aus Sicht des Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, ist in Deutschland „etwas aus den Fugen geraten“. In den vergangenen Wochen habe er zuweilen das Land nicht wiedererkannt, sagte Schuster laut Redemanuskript bei der zentralen Gedenkveranstaltung zum 85. Jahrestag der Novemberpogrome am Donnerstag in Berlin.

„Es wurde zugelassen, dass es sagbar erscheint, öffentlich die Vernichtung Israels und die Auslöschung aller Juden zu propagieren. Es wurde zugelassen, dass sich tausende Menschen mit arabischem Migrationshintergrund, aufgehetzt von radikalen Fanatikern, auf die Straße trauen und all dies fordern – noch einmal: wenige Stunden nach dem grausamen Massaker der Hamas; und bis heute“, betonte Schuster. Mit Blick auf den Terrorangriff am 7. Oktober mit rund 1.400 Toten und etwa 240 Entführten sprach er erneut vom „Pogrom unserer Zeit“.

Schuster sieht Parallelen in der Geisteshaltung radikaler Islamisten, die die Vernichtung Israels und der Juden wollten, und den „rechtsextremen Verächtern unserer Erinnerungskultur an die Schoa“. Die deutsche Verantwortung für Israel sei ein Kern dieser Erinnerung. „Auch in linksextremen und immer mehr linken Kreisen ist die Verachtung dieser Lehren zu spüren – auch der des 9. November 1938.“

Heute schützt de Staat die jüdische Gemeinschaft

Zu der Gedenkveranstaltung waren auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und Militärbundesrabbiner Zsolt Balla erwartet worden. Die Synagoge befindet sich in dem Gebäude, das Mitte Oktober mit mehreren Brandsätzen angegriffen worden war. Menschen wurden nicht verletzt.

Vom 7. bis 13. November 1938 waren nach unterschiedlichen Schätzungen im damaligen Reichsgebiet zwischen 400 und 1.300 Menschen ermordet oder in den Suizid getrieben worden. Mehr als 1.400 Synagogen, Betstuben und sonstige Versammlungsräume sowie Tausende Geschäfte, Wohnungen und jüdische Friedhöfe wurden zerstört. Rund 30.000 Juden wurden in Konzentrationslager verschleppt.

„Das ist wohl der größte Unterschied zu 1938: Wurde die Gewalt damals von den Nationalsozialisten geschürt, schützt heute der Staat die jüdische Gemeinschaft“, betonte Schuster. Allerdings könne Schutz nie absolut sein. „Wer verstehen will, was Jüdinnen und Juden in diesen Tagen fühlen, der muss sich der historischen Pogromerfahrungen im jüdischen Denken bewusst sein.

Antisemitismus in der Mitte der Gesellschaft

Schuster bezeichnete die NS-Novemberpogrome als „die ultimative Demonstration des Judenhasses“. Zugleich sei der 9. November 1938 eine Demonstration der Gewissheit, dass eine „gewaltige Mehrheit der Deutschen“ dem mörderischen Treiben tatenlos zugesehen habe oder Menschen selbst zu Tätern geworden seien.

Um das, was heute aus den Fugen geraten sei, zu reparieren, müsse man sich auch eingestehen, was in den vergangenen Jahren schiefgelaufen sei, und was man nicht habe sehen können oder wollen, so Schuster. Dazu gehöre die Erkenntnis, dass hinter vorgehaltener Hand Antisemitismus bis in die Mitte der Gesellschaft vorgedrungen sei.

Das gelte vor allem für israelbezogenen Antisemitismus, wie sich in diesen Tagen zeige. Angesichts eines deutlich steigenden Judenhasses auch in Deutschland sagte Schuster, das Jüdinnen und Juden stark, selbstbewusst und mutig seien – trotz großer Angst. Gerade jetzt sei Schutz gut und wichtig, aber: „Wir wollen frei leben in Deutschland, in unserem Land; frei leben in dieser offenen Gesellschaft.“

Von Leticia Witte (KNA)

 

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