Künstliche Intelligenz entschlüsselt alte Tontafeln

Schon die alten Babylonier schrieben Texte auf Tontafeln – ob Gesetze oder Erntebilanzen. Künftig soll Künstliche Intelligenz dabei helfen, diese Tafeln zu entschlüsseln.
Künstliche Intelligenz entschlüsselt alte Tontafeln

Scan einer Tafel –Foto: Uni Halle / Maike Glöckner

Künstliche Intelligenz (KI) soll künftig dazu beitragen, Jahrtausende alte Texte zu entschlüsseln. Wissenschaftler der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (MLU), der Hochschule Mainz und der Johannes Gutenberg-Universität Mainz teilten am Montag mit, sie hätten eine künstliche Intelligenz entwickelt, die schwer zu lesende Texte auf Keilschrifttafeln entschlüsseln könne. „Das eröffnet völlig neue Perspektiven für die Forschung.“

Statt Fotos erstellt die KI 3D-Modelle der Tafeln. Damit liefere sie deutlich zuverlässigere Ergebnisse als bisherige Methoden, teilten die Wissenschaftler mit. So werde es auch möglich, den Inhalt vieler Tafeln, die nur als Fragmente erhalten seien, zu durchsuchen und miteinander zu vergleichen. Die Forscher nutzten für ihren neuen Ansatz 3D-Modelle von knapp 2.000 Keilschrifttafeln, darunter etwa 50 aus einer Sammlung der Uni in Halle.

Die Altorientalistik ist ein relativ junges Forschungsgebiet, das erst seit rund 150 Jahren besteht. Grundlegend für diesen Wissenschaftszweig ist die seit Mitte des 19. Jahrhunderts erfolgte Entschlüsselung der Keilschrift, die im 4. Jahrtausend vor Christus von den Sumerern entwickelt und im gesamten Vorderen Orient genutzt wurde. Diese Schrift besteht aus mehr als 10.000 Zeichen und Symbolen. Erschwerend kommt hinzu, dass das damalige Schriftsystem für mehrere Sprachen benutzt wurde.

Noch eine Million Tafeln mit Keilschrift

Weltweit gibt es Schätzungen zufolge noch etwa eine Million solcher Tafeln mit Keilschrift. Viele davon sind über 5.000 Jahre alt und gehören damit zu den ältesten erhaltenen Schrifterzeugnissen der Menschheit. Allerdings gibt es nur wenige Wissenschaftler, die die Schrift entziffern können. Es besteht also riesiger Forschungsbedarf.

Der Inhalt der Tafeln deckt ein breites Themenspektrum ab: „Auf ihnen ist alles zu finden: vom Einkaufszettel bis hin zu Gerichtsurteilen. Die Tafeln ermöglichen einen Blick in die Vergangenheit des Menschen vor mehreren Jahrtausenden“, sagt der Informatiker und Experte für Digitale Archäologie, Hubert Mara von der MLU. „Allerdings sind sie stark verwittert und selbst für geübte Augen nur schwer zu entziffern.“

Bei den Keilschrifttafeln handelt es sich um ungebrannte Tonklumpen, in die ausgebildete Schreiber mit Hilfe von Keilen Schriftzeichen eindrückten. Um die Zeichen richtig zu deuten, sind daher nach Angaben der KI-Experten nicht nur optimale Lichtverhältnisse, sondern auch viel Hintergrundwissen nötig. „Bislang ist der Zugriff auf den Inhalt der Keilschrifttafeln schwierig – man muss schon genau wissen, wonach man wo sucht“, so Mara.

Im Prinzip ermittelt die neue, OCR genannte KI Schrift und Text in dreidimensionalen Bildern. „OCR arbeitet in der Regel mit Fotografien oder Scans. Für Tinte auf Papier oder Pergament ist das kein großes Problem mehr. Bei Keilschrifttafeln ist die Sache aber schwieriger, da das Licht und der Betrachtungswinkel einen großen Einfluss darauf haben, wie gut bestimmte Zeichen zu erkennen sind“, erklärt Ernst Stötzner von der MLU.

Neuer Zugang zu viele Forschungsfragen

Das Team trainierte die neue KI anhand von Material und Erkenntnissen, die zu großen Teilen von der Universität und der Hochschule Mainz zur Verfügung gestellt wurden. Dort ist die von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderte „Digitale Edition der Keilschrifttexte aus Haft Tappeh“ angesiedelt, einem Ort im Südwesten des Iran. Bis heute wurden dort in großflächigen Ausgrabungen neben architektonischen Resten eines Palastes mehr als 1.400 Textfragmente von Keilschrifttafeln in babylonischer Sprache freigelegt.

Die Arbeit der Forscher aus Halle und Mainz eröffnet damit einen neuen Zugang zu vielen neuen Forschungsfragen. Bisher erkennt die Technik allerdings nur Schriftzeichen von zwei Sprachen zuverlässig. Insgesamt sind aber zwölf Keilschriftsprachen bekannt.

Perspektivisch könnte die Software nach Darstellung der Wissenschaftler auch dabei helfen, verwitterte Inschriften zum Beispiel auf Friedhöfen zu erkennen, die wie die Keilschrift dreidimensional angelegt sind.

Christoph Arens (KNA)