Berlin (KNA) Der aus Großbritannien stammende Historiker Niall Ferguson sorgt sich um das Diskussionsklima an Universitäten in den USA. „Es geht nicht mehr darum, in der Debatte mit Argumenten zu überzeugen, sondern zu canceln“, sagte Ferguson der „Welt am Sonntag“.

„Wer in den vergangenen Jahren nicht auf einem amerikanischen Campus war, kann sich nicht vorstellen, wie bedrohlich die Atmosphäre dort geworden ist“, erläuterte Ferguson, der unter anderem in Harvard lehrte und aktuell Senior Fellow an der Hoover Institution der Universität Stanford ist. „60 Prozent der Studenten sagen, sie könnten nicht offen sprechen im Hörsaal. Es gibt Denunziation, wenn jemand es doch tut.“

Solche Verhaltensmuster kenne man aus Diktaturen, so der Historiker. „Wenn Studenten nicht sehen, dass Denunziation und Canceln totalitäres Verhalten sind, dann haben wir versagt. Wir haben versagt, ihnen den fundamentalen Unterschied zwischen einer freien und einer unfreien Gesellschaft zu erklären.“

Hätten junge Erwachsenen mehr Geschichtsbewusstsein, wären sie sensibler für solche Entwicklungen, meinte der 59-Jährige. „Meine Generation hatte keine Probleme damit. Es war einfach zu verstehen, wie das Leben unter den Nazis oder in der Sowjetunion war.“ Aber die Generation, die jetzt an den Unis sei, habe überhaupt kein Gespür dafür.

„Wir müssen die Jungen dazu bekommen zu lesen oder wenigstens Filme und Dokumentationen zu schauen, um den puren Horror zu verstehen, den ein Klopfen um drei Uhr morgens an der Tür bedeuten kann“, betonte Ferguson. „Ich habe früher immer Studenten in Oxford gefragt, was sie denken würden, wenn jemand um drei Uhr morgens an der Tür klopfen würde. Und die Antwort war immer: Einer meiner betrunkenen Freunde steht vor der Tür. Und ich sagte dann, was glaubst du, was es bedeutet hätte in Deutschland 1938? Oder in Russland 1942? Aber ich glaube, diese Frage wird nicht mehr gestellt.“