In der Mülheimer Bistumsakademie „Die Wolfsburg“ diskutierte der Bischof über die wachsende Herausforderung von Hass in der Gesellschaft.
Mülheim – Coronapandemie, Ukrainekrieg, Nahostkrieg, Inflation, Flüchtlingskrise, Energiewende, Lokführer und Bauern streiken. Wir leben in einer aufgeregten Gesellschaft. Akademiedozent Dr. Jens Oboth spricht von einer „Polykrise“.
Und der Vorstandssprecher der Bank im Bistum Essen (BIB), Dr. Peter Güllmann, führte als Ko-Gastgeber in den Dialog mit dem Bischof ein, in dem er feststellt: „Angesichts des zunehmenden Hasses in unserer Gesellschaft mache ich mir Sorgen um unsere Demokratie, die wir verteidigen müssen, ob privat, auf der Straße oder im Netz. Denn die Sozialen Medien sind der Stammtisch und das Bierzelt unserer Zeit, in der sich Hassbotschaften schneller und radikaler verbreiten als je zuvor.“
Auch seine Bank sieht Güllmann als Verteidigerin der Demokratie, „in dem wir als Bank Im Bistum Essen keine Geschäftspolitik betreiben, durch die die Würde von Menschen verletzt werden könnte.“ Die Frage, wie man den digitalen und analogen Hassreden entgegentreten kann und muss, um unsere liberale und rechtsstaatliche Demokratie gegen die Anfeindungen politischer Extremisten und Populisten zu verteidigen, diskutierte Ruhrbischof Dr. Franz-Josef Overbeck auf dem von Jens Oboth moderierten Podium mit der Vizepräsidentin des Landtags, Berivan Aymaz, mit dem Konfliktforscher Prof. Dr. Andreas Zick und mit einem kritisch mitdenkenden Publikum im vollbesetzten Auditorium der katholischen Akademie.
Politikerin und Bischof brauchen Personenschutz
Die Politikerin und der Bischof wurden konkret. Sie berichteten von den Hassbotschaften, die sie per Mail, per Post oder auch bei persönlichen Begegnungen von „reinen Deutschen“ und „echten Katholiken“ als „türkisch-muslimische Schweinepriesterin“ oder als „Bischof der gar nicht katholisch ist“ und der deshalb „den baldigen Feuertod“, die Exkommunizierung und die Vertreibung ins Ausland verdient habe, „damit wir uns hier wohlfühlen können“ und: „als Deutsche entscheiden können, wie es mit Deutschland weitergeht.“
Dass die Politikerin, deren Wiege in Kurdistan stand, schon lange deutsche Staatsbürgerin ist, und dass der Bischof eine in jeder Hinsicht fundierte christlich-katholische Vita aufweisen kann, hält die Hassredner, vom rechten Rand des politischen Spektrums und der katholischen Kirche, nicht von ihren Tiraden ab. Sobald sie sich etwa zum Umgang mit Flüchtlingen, zur Unterstützung der Ukraine gegen den russischen Angriffskrieg, zur Toleranz gegenüber sexuellen Minderheiten oder zum synodalen Reformweg der katholischen Kirche in Deutschland äußern, lesen die Hass-Apostel ihnen auf ihre intolerante und irrationale Weise die Leviten. „Solche Bedrohungen und Anfeindungen treffen nicht nur mich persönlich, sondern auch die Menschen in meinem Umfeld“, sagt Overbeck. Politikerin und Bischof brauchen Personenschutz, weil sie als öffentliche Personen das tun, was in einer demokratischen Gesellschaft selbstverständlich sein sollte. Sie machen von ihrer grundgesetzlich geschützten Meinungsfreiheit Gebrauch und mischen sich in die politische Debatte über die Gegenwarts- und Zukunftsfragen unseres Gemeinwesens ein.
Für Overbeck lebt unsere Demokratie davon, „dass wir die Dinge klar benennen und dabei auch Konflikte und Probleme offen aus- und ansprechen.“ Für ihn leitet sich „aus unserem Glauben an einen personalen Gott“ auch „eine universelle Menschenwürde ab, die jedem Menschen als Person zukommt.“
Der Bischof ist überzeugt, „dass wir als Kirche zu sozialen und ethischen Themen viel zu sagen haben und dies auch tun müssen, um unsere Demokratie zu verteidigen und weiterzuentwickeln.“ Deshalb warnt er vor einem falsch verstandenen christlichen Glauben. „Sich politisch nicht einzumischen und nur zu beten und fromm in der Ecke zu sitzen, um sich nachher zu beschweren, dass die Welt nicht so ist, wie sie sein sollte, ist keine christliche Haltung“, betonte Overbeck.
Zunehmende Zahl von politisch indifferenten Hasstaten
Berivan Aymaz warnte angesichts ihrer eigenen Erfahrungen mit den lautstarken und ostentativen Anfeindungen aus den Reihen der AfD vor „bürgerlich gut situierten und akademisch gebildeten Rechtsextremisten, die unsere Demokratie aus ideologischen Gründen zerstören wollen.“ Mit Blick auf die aktuellen Parteigründungsambitionen, à la Bündnis Sarah Wagenknecht und Werteunion, sagte Aymaz: „Was unsere Demokratie braucht, um im Sinne von gerechter sozialer und politischer Teilhabe weiterentwickelt und damit stabilisiert und geschützt zu werden, sind keine neuen Parteien, sondern gesellschaftspolitische Bündnisse.“ Die sieht sie an diesem „guten Abend“ in der Wolfsburg in Form von engagierten und interessierten Menschen aus unterschiedlichen Bereichen der Zivilgesellschaft vor sich.
Konfliktforscher Andreas Zick nannte die Trends der aktuellen „Mitte“-Studie, die er mit seinem Team vorgelegt hat. Sie weist auf der Basis der polizeilichen Kriminalstatistik nicht nur eine steigende Zahl von politisch motivierten Straftaten aus, sondern auch eine zunehmende Zahl von politisch indifferenten Hasstaten.
„Ich habe keinen Bock mehr. Das ist mir alles zu viel“, beschreibt er eine in der verunsicherten bürgerlichen Mittelschicht weitverbreitete Grundhaltung. „Es war die bürgerliche Mitte, die den Faschismus in Deutschland erst möglich gemacht hat“, erinnert er an das Jahr 1933. In diesem Zusammenhang sorgt ihn „die zunehmende Grauzone in der bürgerlichen Mitte“, die den Forderungen der politischen Extreme ambivalent gegenübersteht. Auch Aymaz hat „keine Angst vor den zehn oder 20 Prozent, die offen politisch extreme Positionen vertreten, sondern vor der schweigenden Mehrheit, die nichts tut, um die Demokratie zu verteidigen und weiterzuentwickeln“.
Angesichts der Angriffe auf die Institutionen und Repräsentanten des demokratischen Rechtsstaates, stellt Zick fest: „Wir brauchen wieder ein positives Zukunftsmodell. Als Bürgerinnen und Bürger, sind wir angehalten, unsere Demokratie nicht zu zerstören, sondern mitzugestalten und weiterzuentwickeln.“
Damit das gelingen kann, müssen nach seiner Ansicht, Bildung und Kultur, finanzpolitisch deutlich stärker gefördert werden, „weil sie Schutz- und Freiräume schaffen, in denen Menschen bedingungslos ihre Menschenwürde erleben und sich so angstfrei begegnen und miteinander austauschen können.“ Einen solchen Schutzraum unserer Demokratie sieht er an diesem Abend auch in der Kirche im Allgemeinen und in der katholischen Akademie im Besonderen.