Der Historiker Alan E. Steinweis im Interview über den reichsweiten Pogrom am November 1938, bei dem Synagogen brannten und 1500 Menschen starben
Die Erinnerung an den 9. November 1938, an eine Nacht voll Schrecken und Terror für die deutschen Juden, gehört zum Kern der deutschen Erinnerungskultur. Der Historiker Alan E. Steinweis, Professor für Geschichte und Direktor des Center for Holocaust Studies an der University of Vermont, spricht im Interview mit Boris Spernol über die Bedeutung der Reichskristallnacht, die als Auftakt zum Holocaust gilt.
RW: Herr Steinweis, der Begriff „Reichskristallnacht“ ist umstritten. Ihr Buch trägt den pragmatischen Titel „Kristallnacht 1938. Ein deutscher Pogrom“. Wie soll man das Geschehen aus Ihrer Sicht bezeichnen?
Steinweis: Ich habe das Buch ursprünglich für ein amerikanisches Publikum geschrieben. In den USA und auch sonst außerhalb Deutschlands ist der Begriff Kristallnacht die gängige Bezeichnung und gilt nicht als problematisch. Viele Deutsche aber haben Bedenken gegen die „Reichskristallnacht“, weil sie glauben, dies sei eine Erfindung des NS-Propagandaministers Joseph Goebbels. Es handelt sich aber wohl nicht um einen NS-Euphemismus, sondern um eine Art Kritik, die dem Berliner Volksmund entspringt. Damals gab es eine Vielzahl von Begriffen wie Reichsjugendführer oder Reichsarbeitsdienst – und „Reichskristallnacht“ war als eine Art Parodie hierauf zu verstehen. Ironischer Weise hat Goebbels den Begriff für sich übernommen.
„Der Streit um diesen Begriff ist eine sehr deutsche Sache.“
RW: Wäre Pogrom als analytischer Begriff besser geeignet?
Steinweis: Ich halte in diesem Semester ein Hauptseminar zu diesem Thema, und in der Diskussion kamen wir zu dem Schluss, dass es eigentlich keine Bezeichnung gibt, die nicht auf irgendeine Weise problematisch ist. Auch der Pogrom ist mit einer bestimmten Bedeutung aufgeladen und hat einen historischen Hintergrund. Unter Pogromen werden an sich spontane Ausschreitungen in Osteuropa gegen Juden verstanden. Und das, was im November 1938 in Deutschland geschah, waren organisierte Aktionen. Juden haben nach 1938 auch von der „Reichsscherbennacht“ gesprochen. Aber es gibt wohl keinen Begriff, der perfekt funktioniert. Meine Eltern sind polnische Holocaust-Überlebende. Ich lebe mein ganzes Leben mit dieser Geschichte und stamme aus einer Gesellschaft von Holocaust-Überlebenden, die nach Amerika ausgewandert sind, in der ich nie grundsätzliche Bedenken gegen „Kristallnacht“ erlebt habe. Der Streit um diesen Begriff ist eine sehr deutsche Sache.
RW: Welche erinnerungskulturelle Bedeutung nimmt die Kristallnacht im Gedenken an die NS-Zeit insgesamt ein?
Steinweis: In Deutschland spielt sie seit den fünfziger Jahren eine sehr wichtige Rolle in der Erinnerungskultur, auch wenn die Verbrechen der Kriegszeit schlimmer und weitgehender waren. Der Pogrom war etwas Besonderes, weil er landesweit stattfand und eine große Zahl „normaler Deutscher“ daran teilnahm. Die Kristallnacht steht mit der Zerstörung der Synagogen für das Ende des damaligen deutschen Judentums, obwohl die Deportationen erst später ab 1941 stattfanden. Bis dahin war, auch nach sechs Jahren antisemitischer Verfolgung seit 1933, ein jüdisches Leben in Deutschland unter bestimmten Beschränkungen noch vorstellbar. Nur etwa ein Drittel der deutschen Juden war bis dahin ausgewandert. Nach November 1938 hat niemand mehr geglaubt, sich mit dem Regime irgendwie arrangieren, und an die neue Wirklichkeit anpassen zu können.
„Es gab viele Menschen, die sich ohne Zwang und ohne Druck von Oben beteiligten“
RW: War es für die Deutschen leichter, der Kristallnacht zu gedenken, als sich mit dem Holocaust auseinanderzusetzen?
Steinweis: Es gab durchaus gute Gründe dafür, warum der Pogrom in Deutschland mehr Aufmerksamkeit bekommen hat als der Massenmord im Osten. Die Kristallnacht hatte sich auf deutschen Straßen und in deutschen Städten ereignet. Seit den fünfziger Jahren wurde sie in der Erinnerungskultur immer wieder ritualisiert thematisiert, aber das ist etwas anderes als wissenschaftliche Aufarbeitung. Man hat sich nicht mit wichtigen Fragen des Ereignisses auseinandergesetzt, zum Beispiel mit dem Ausmaß der spontanen Beteiligung „normaler Deutscher“, also nicht organisierter Nationalsozialisten. Es gab viele Menschen, die sich ohne Zwang und ohne Druck von Oben beteiligten, entweder aus antisemitischen Gründen oder weil es ihnen Spaß machte, wie es bei vielen jungen Leuten der Fall war. Auch das Phänomen des Plünderns war sehr wichtig, woran sich besonders Frauen beteiligten. Die NS-Regierung hat sogar versucht, das Plündern zu unterbinden, weil sie befürchtete, im Ausland entstünde der Eindruck, es gehe um Geldgier statt um Rache an den Juden für das Attentat auf Ernst vom Rath in Paris am 7. November.
RW: In der Erinnerungskultur hat man immer wieder auf die Gewalt des Pogroms hingewiesen, ohne danach zu fragen, wer daran aus welchen Motivlagen teilgenommen hat. Inwiefern liegt das auch am zeitlich geringen Abstand der Forschung und der persönlichen Betroffenheit der Historiker?
Steinweis: Das ist ohne Frage ein Grund dafür, dass in Deutschland nicht viele wissenschaftliche Arbeiten dem Thema gewidmet wurden. Bereits 1953 schrieb Hermann Graml einen großen Aufsatz, der mehrmals wiederaufgelegt wurde. Graml wies bereits darauf hin, dass viele Zuschauer sich spontan entschieden hatten, aktiv an dem von oben organisierten Pogrom teilzunehmen, und zwar in vielen Fällen mit großer Begeisterung. Die deutsche Gesellschaft und auch andere deutsche Wissenschaftler waren aber nicht bereit, diese Wahrheit zu akzeptieren. Bis in die achtziger Jahren gab es fast keine ernsthafte wissenschaftliche Forschung in Deutschland zu diesem Thema.
RW: Sie schildern in Ihrem Buch, dass der Novemberpogrom in Kassel seinen Ursprung hatte. Wie kam es dazu?
Steinweis: Ich habe versucht, die Geschichte der Ausschreitungen in Kassel bereits am 7. und 8. November zu beschreiben. Was in diesen Nächten dort abgelaufen ist, wissen wir. Aber wie es dazu gekommen ist, wie oder ob überhaupt etwas befohlen wurde oder ob es spontan angefangen hat – das wissen wir nicht. Das ist eine noch wichtige Forschungslücke und in unserem Verständnis der Sache. Für Hitler war es als Staatsoberhaupt wichtig, sich nach außen davon zu distanzieren, aber irgendjemand musste das landesweit organisieren. Hierfür war Goebbels eine wichtige Figur in der NS-Führungsriege. Dass er sich aber als Gauleiter von Berlin ausgerechnet Kassel als Ausgangspunkt ausgesucht hat, ist eher unwahrscheinlich.
„Es gab seit 1933 immer eine Wechselwirkung zwischen Gewalt und Gesetz.“
RW: Die alltägliche Gewalt gegen Juden konstituierte einerseits die NS-Volksgemeinschaft, andererseits befürchtete die NS-Führung, dass die entfesselte Gewalt in Anarchie umschlagen könnte, und suchte immer wieder nach juristischen Legitimationen.
Steinweis: Man könnte es so sagen. Der Historiker Michael Wildt hat in einer wichtigen Studie gezeigt, dass Gewalt gegen Juden schon seit Januar 1933 ziemlich normal war. Man liest immer wieder in Gesamtdarstellungen zum Holocaust, dass es bis 1938 nur eine bürokratisch-gesetzliche Ausschaltung der Juden aus der Gesellschaft gegeben habe und dann eine Welle der Gewalt. Gleichwohl war 1938 eine Zäsur, weil man das Ausmaß der Gewalt vorher nicht gekannt hatte. Sie haben recht: Es gab seit 1933 immer eine Wechselwirkung zwischen Gewalt und Gesetz. Hitler hat abwechselnd Gewalt gegen Juden toleriert, genehmigt oder unterbunden. Er hat das sehr strategisch gehandhabt. Der November 1938 bildete in dieser Hinsicht keine Ausnahme, da hat er nach dem alten Muster gehandelt.
RW: Was können Sie über die Motive sagen, am Pogrom mitzuwirken? Wie sehr war es Antisemitismus? Welche anderen Faktoren spielten eine Rolle?
Steinweis: Wir können das nicht exakt messen, aber es ist klar, dass bei verschiedenen Bevölkerungsgruppen bestimmte Faktoren wichtiger als bei anderen waren. Zum Beispiel bei den Frauen, die keine Parteigenossinnen waren und die mitten in der Nacht geplündert haben, war die Motivation zum großen Teil Geldgier oder zumindest eine gewisse Bereitschaft, Eigentum von anderen zu stehlen, um damit den eigenen Lebensstandard zu verbessern. Aber auch in diesen Fällen spielte die Ideologie eine gewisse Rolle, weil die Bereitschaft, die Habe der Juden wegzunehmen, auf einem bestimmten historischen Verständnis beruhte, wonach Juden dieses Eigentum durch unehrliche oder schmutzige Geschäfte bekommen hätten. Es ist psychologisch gesehen einfacher, einen Diebstahl zu begehen, wenn das Opfer auch als eine Art Verbrecher betrachtet wird.
RW: Das unterscheidet die Vorkommnisse der Kristallnacht letztlich kaum von der Umsetzung der nun folgenden forcierten „Arisierung“ jüdischen Eigentums.
Steinweis: Ja, mit dem Unterschied, dass die Arisierung ein legales Verfahren war, und nach deutschem Gesetz war und die Plünderung nicht. Auch 1938 war es gesetzwidrig Gegenstände von anderen zu stehlen. Die Polizei hat versucht, die Plünderer zu identifizieren und festzustellen, was gestohlen wurde und die Leute sogar teilweise dazu gezwungen, die gestohlenen Dinge an die Juden zurückzugeben…
„Die Teilnahme am Pogrom war weitgehender in der Gesellschaft, als bisher angenommen“
RW: … während die Feuerwehr bei den Synagogen nur einschreiten sollte, wenn das Feuer drohte auf anliegende Häuser überzugreifen…
Steinweis: Ja, das war eine sehr pragmatische Entscheidung, weil viele deutsche Synagogen innerhalb von Häuserblöcken lagen, die man nicht gefährden wollte. Der Berliner Polizist Wilhelm Krützfeld, der Revierleiter am Hackeschen Markt war, hat deshalb die große Synagoge in der Oranienburger Straße gerettet, die eine SA-Einheit bereits in Brand gesetzt hatte. Er gilt deshalb bis heute als eine Art Held, es gibt an der Fassade der Synagoge eine Gedenktafel, die an seine Tat erinnert. Aber er hat eigentlich nur seine Pflicht getan, denn man konnte die Synagoge nicht in Brand lassen, ohne zu riskieren, dass die ganze Straße in Flammen aufging. War er ein Held, weil er seine Pflicht getan und die Synagoge gerettet hat? Ich weiß es nicht. Aber man sucht immer nach Helden in solchen Massenverbrechen, weil es wichtig ist, Vorbilder zu haben. Ob er das beste Vorbild ist, weiß ich nicht. Wir kennen viele andere Beispiele von Deutschen, die Hilfe für Juden geleistet haben, deren Motivation altruistisch war, aber in den meisten Fällen bleiben diese Menschen anonym.
RW: Eine wichtige Schlussfolgerung Ihres Buches lautet, dass man von einer passiven deutschen Bevölkerung nicht mehr reden könne.
Steinweis: Ja, die Teilnahme am Pogrom war weitgehender in der Gesellschaft, als bisher angenommen. Aber auch die Zahl von Deutschen, die Juden Hilfe leisteten, ist wesentlich größer als bisher angenommen.
RW: Was sagt das über das Verhältnis der deutschen Bevölkerung zum Nationalsozialismus aus?
Steinweis: Das ist eine gute Frage. Ich weiß nicht, ob man wegen eines Verhaltens gegenüber Juden zu allgemeinen Schlussfolgerungen kommen kann über das Verhältnis der Bevölkerung gegenüber dem NS überhaupt. Es war möglich, antisemitisch eingestellt und bereit zu sein, jüdisches Eigentum an sich zu nehmen, ohne den NS zu unterstützen. Für mich lautet die wichtige Frage, was der Pogrom für die künftige Judenpolitik des Dritten Reichs bedeutete. Und da würde ich sagen, dass die Deutschen, die am Pogrom teilnahmen, eine beträchtliche begeisterte und organisierte Minderheit darstellten. Und die Minderheit, die zwar nicht bereit war, an antijüdischer Gewalt teilzunehmen, aber von deren Ergebnissen zu profitieren, war noch größer. Wir müssen uns fragen, was es bedeutet, dass so viele Menschen breit waren, antisemitisch zu agieren oder diese Gewalt zu tolerieren und zu profitieren – und das nur ein Jahr vor Kriegsausbruch mit ernsthafter antisemitischer Gewalt während des Krieges.
RW: Wenn Sie sagen, es war eine beträchtliche Minderheit, die aktiv mitgemacht und profitiert hat, so gab es zugleich aber eben auch keine Mehrheit, die sich offen gegen den Pogrom gestellt hätte.
Steinweis: Keine Frage. Auch während der sogenannten „Endlösung“ war es für die Regierung nur wichtig, eine Minderheit zu mobilisieren, um diese Politik durchzusetzen. In dieser Hinsicht war der Novemberpogrom ein Muster dafür, was später passierte. Die wichtige Frage ist, wie groß die Minderheit war, die bereit war, antijüdische Maßnahmen zu akzeptieren und aktiv zu tragen. Der Pogrom hat bewiesen, dass die Zahl solcher Leute in Deutschland beträchtlich war.