Sie sind schon über zwanzig Jahre verheiratet. Für beide Eheleute eine unendlich lange Zeit in unserer schnelllebigen Zeit. Da lernt man sich kennen, da weiß man so manches voneinander, da kann einer dem anderen nichts mehr vormachen. Manchmal glauben sie sogar, sich schon „in- und auswendig“ zu kennen.
Und doch, gelegentlich kennen sie sich selbst nicht wieder. Da staunen sie selbst am meisten über eine unerwartete Leistung, die sie einander nicht zugetraut haben. Oder sie bewundern den anderen für sein mutiges Einschreiten in einer gefährlichen Situation. Andererseits sind sie zu Tode erschrocken über bestimmte Handlungsweisen, zu denen sie sich hinreißen ließen und für die sie sich im Nachhinein voreinander schämen.
Nicht im Griff
Selbst nach langjähriger Ehe erscheint uns der Andere immer noch „anders“, mitunter sogar fremd. Das ist ärgerlich wie faszinierend zugleich. Vor Überraschungen – angenehmen wie unangenehmen – sind sich Eheleute auch nach langen Ehejahren nie sicher. Oft sind sie sich selbst das „größte Rätsel“. Wie wir uns im letzten selbst unbegreiflich sind, so wird uns der Partner stets unfassbar bleiben. Wir bekommen ihn nicht „in den Griff“.
Und das ist gut so! Wir müssen nicht alles vom anderen wissen. Der andere bleibt immer auch ein Stück „Geheimnis“, ohne dass wir einander etwas verheimlichen müssen. „Wenn jemand sagt: ich kenne dich, hört er auf zu lieben“, behauptet wohl zurecht der Schweizer Schriftsteller Max Frisch. Es muss immer noch etwas zu entdecken und zu erobern geben – auch und gerade in der Ehe.
Immer mehr Menschen „offenbaren“ sich und breiten ihr Leben öffentlich aus. Auf ihrer Homepage kann man nachlesen, wer sie sind, was sie gerade tun, was ihnen so alles durch den Kopf geht. Und so manche(r) ist sich nicht zu schade, sich im Doppelsinn des Wortes zu entblößen. Und sogar Nacktfotos von sich zu posten… Die Schamgrenze sinkt erheblich!
Wem ist damit gedient, wenn jeder alles vom anderen weiß? Wenn der Bereich des Privaten bis ins Letzte ausgeleuchtet wird und alles transparent sein soll? Ist eine solch totale Transparenz – und damit das Ende des Geheimnisses – tatsächlich gewollt und erstrebenswert? Transparenz kann zu einem Instrument der Kontrolle und Überwachung werden und mit Verdächtigungen und Gerüchten Macht ausüben.
Zweifellos braucht es gerade heute Offenheit und Öffentlichkeit in unserer Gesellschaft. Da kommt so manche Heimlichtuerei, so manche Machenschaft ans Tageslicht, nicht nur bei Finanzen und Strukturen. Die Transparenzbewegung ist ein demokratischer Fortschritt – so lange und so weit der Bereich des Privaten, wie die Unverletzlichkeit der Wohnung und das Post-, Brief- und Fernmeldegeheimnis, gewahrt bleiben. Es braucht wohl die Spannung zwischen Transparenz und Geheimnis. Beides fasziniert und ängstigt zugleich.
„Wir haben doch keine Geheimnisse voreinander, nicht wahr, Liebling?!“ Ein solcher Satz, vielleicht sogar gut gemeint, klingt wie eine Drohung. Nichts darf für sich behalten werden; alles muss mitgeteilt werden, selbst was im Stillen gedacht wird. Manchmal ist es gut und hilfreich, etwas (vorerst) zu verbergen, was der Partner (noch) nicht verstehen oder einordnen kann. Alles Miteinander, selbst im intimen Raum einer Ehe, braucht Räume des Rückzuges, wo jeder für sich sein und zu sich selbst finden kann.
Dazu braucht es Vertrauen. Wer sich und dem Anderen Geheimnisse zugesteht, hat nichts zu verheimlichen. Er muss vertrauen können, sich ins Offene wagen und das Unsichere aushalten. Vertrauen hat immer mit Zutrauen und Anvertrauen zu tun. Die Krise des Geheimnisses, von der heute so oft gesprochen wird, ist letztlich eine Vertrauenskrise. Wo Menschen sich misstrauisch begegnen, fühlen sie sich hintergangen, verlassen und bedroht.
Zwang und Kontrolle
Vertrauen und Verlässlichkeit müssen wachsen können. Beides braucht seine Zeit. Beschwörende Worte allein, wie „Du kannst mir doch alles sagen“ oder „Wir müssen nichts voreinander verbergen“, helfen da nicht weiter. Sie können Gegenteiliges bewirken, weil Zwang und Kontrolle wohl zurecht vermutet werden. „Vertrauen kommt zu Fuß und verschwindet im Galopp“, so eine holländische Volksweisheit.
Es gibt keine Religion ohne das Geheimnis, ohne die Akzeptanz, dass es einen Raum des Verborgenen und nur im Glauben Verstehbaren gibt. Die Menschwerdung Gottes ist das große Geheimnis des christlichen Glaubens. Der Gott, der sich den Menschen offenbart hat, bleibt im letzten zugleich der verborgene, unfassbare und rätselhafte Gott. Geheimnis des Glaubens!
Wie im Glauben, so offenbart sich die Wahrheit auch im Leben nicht in der Transparenz, in der totalen Ausleuchtung menschlichen Lebens. Wahres Leben spielt sich ab im Zusammenspiel von Offenbaren und Verbergen, von Transparenz und Geheimnis. Das Geheimnis, es hat hoffentlich in unserer geschwätzigen Welt doch noch eine Chance. Sein Loblied ist zu singen – nicht nur an Weihnachten… Peter Neysters
Der Autor ist ehemaliger Leiter der Abteilung „Ehe und Familie“ sowie Sakramentenpastoral im Bistum Essen. Seine Kolume erscheint regelmäßig im Neuen Ruhr-Wort.
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