Wissenschaftler zu Missbrauch: Kirche muss Strukturen ändern

Die katholische Kirche muss nach Auffassung von Wissenschaftlern Strukturen ändern, um weiteren Missbrauch zu verhindern. Der Koordinator der Studie über sexuellen Missbrauch in der Kirche, Harald Dreßing, zeigte sich am Dienstag in Fulda erschüttert über das Ausmaß der Vorfälle. Auch der Vorsitzende der Bischofskonferenz, Kardinal Reinhard Marx, bekundete Scham und Erschütterung. Die Ergebnisse legten nahe, dass es in der Kirche Strukturen gegeben habe und gebe, die Missbrauch begünstigen, sagte Dreßing. „Dazu gehören der Missbrauch klerikaler Macht, aber auch der Zölibat und der Umgang mit Sexualität, insbesondere mit Homosexualität“. Auch die Rolle der Beichte müsse überdacht werden, weil Täter sie zur Tatanbahnung, aber auch zur Verschleierung und zur eigenen Entlastung missbraucht hätten, sagte der Psychiater.

(Symbolfoto: © Jeffrey Williams | Dreamstime.com)

Eine nähere Beschäftigung mit diesen Strukturen sei aus seiner Sicht wichtiger als die Analyse der Zahlen, die ohnehin nur „die Spitze eines Eisbergs“ zeigen könnten. Es handele sich um eine „untere Schätzgröße“. Auszugehen sei von einem großen Dunkelfeld. Die Wissenschaftler ermittelten Missbrauchsvorwürfe gegen 1.670 Kleriker, was einem Anteil von 4,4 Prozent der geprüften Geistlichen entspricht. Marx bekundete deutliche Selbstkritik an der Kirche und seinem eigenen Handeln: „Allzulange ist in der Kirche Missbrauch geleugnet, weggeschaut und vertuscht worden“, sagte der Vorsitzende der Bischofskonferenz. Das sei um den Schutz der Institution willen geschehen. „Ich empfinde Scham für das Wegschauen von vielen, die nicht wahrhaben wollten, was geschehen ist und die sich nicht um die Opfer gesorgt haben. Das gilt auch für mich! Wir haben den Opfern nicht zugehört.“

Sexueller Missbrauch sei ein Verbrechen, ergänzte Marx. Und wer schuldig sei, müsse bestraft werden. Die Kirche habe Machtstrukturen zugelassen und „einen Klerikalismus gefördert, der wiederum Gewalt und Missbrauchbegünstigt hat“. Jetzt müsse man viel stärker als bisher die Opfer einbeziehen, so der Kardinal weiter. Die Kirche müsse neues Vertrauen aufbauen: „Ich verstehe viele, die sagen: Wir glauben Euch nicht.“ Der Missbrauchsbeauftragte der Bischofskonferenz, der Trierer Bischof Stephan Ackermann, erklärte, der Forschungsbericht gebe der Kirche „deutliche Hinweise“, welche Strukturen und Dynamiken das Missbrauchsgeschehen begünstigen könnten.

Marx und Ackermann betonten, es seien weitere Schritte nötig, um das Thema gründlicher aufzuarbeiten. Vielleicht könne es dabei so etwas wie unabhängige „Wahrheitskommissionen“ in den Bistümern geben, sagte Marx. Auch für eine engere Zusammenarbeit mit dem Staat, der Justiz und dem Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung sei er grundsätzlich offen. Ackermann begrüßte die Forderung von Opferverbänden nach einer Verbesserung der Entschädigung. Der Mechanismus zur Zahlung von finanziellen Anerkennungsleistungen und zur Zahlung von Therapien sei bisher sehr unterschiedlich gehandhabt worden und könne sicher optimiert werden, sagte er.

Die Bundesvorsitzende der Opferschutz-Organisation Weißer Ring, Roswitha Müller-Piepenkötter, sagte, die Kirche habe das Problem des sexuellen Missbrauchs noch nicht im Griff. Es sei davon auszugehen, dass „auch für die nahe Vergangenheit und für die Zukunft mit solchen Fällen zu rechnen ist“, sagte die im Beirat der Studie sitzende Juristin.

Nach der Veröffentlichung der Studie über Missbrauch in der katholischen Kirche haben Politiker und Wissenschaftler Konsequenzen angemahnt. Bundesfamilienministerin Franziska Giffey (SPD) forderte am Dienstag eine „ehrliche und umfassende Aufarbeitung“. Sie erklärte: „Menschen, die so etwas tun, haben in keinem Amt der Kirche etwas zu suchen.“ Zugleich betonte sie, dass das Thema Missbrauch nicht auf die Kirche beschränkt sei.

Bundesjustizministerin Katarina Barley (SPD) forderte, die Bistümer und Orden müssten Verantwortung für jahrzehntelanges Vertuschen und Verleugnen übernehmen. „Wie massiv aus dem Inneren der Kirche heraus Vertrauen, Abhängigkeiten und Macht missbraucht wurden, ist unerträglich.“ Nur wenn sich die Kirche ernsthaft der Debatte über Machtstrukturen und Sexualmoral stelle, könne sie Glaubwürdigkeit zurückgewinnen. Barley verlangte, dass die Kirche jede Tat anzeigen müsse. Der Rechtsstaat könne nur funktionieren, wenn ihm Taten gemeldet würden.

Der religionspolitische Sprecher der FDP-Fraktion, Stefan Ruppert, meinte, die katholische Kirche müsse nun zeigen, dass sie in Fällen sexuellen Missbrauchs konsequent eine Null-Toleranz-Politik verfolge. Sie müsse schnellstmöglich aufzeigen, wie sie derartige Taten künftig verhindern und Täter zur Verantwortung ziehen wolle. Auch die frühere deutsche Vatikan-Botschafterin Annette Schavan plädierte für „tiefgreifende Veränderungen“ in der Kirche. Papst Franziskus habe immer wieder Klerikalismus und Machtmissbrauch angeprangert, sagte sie im rbb. Die Betroffeneninitiative „Eckiger Tisch“ verlangte eine unabhängige Aufarbeitung. Auch der Vatikan müsse Zugang zu den dort befindlichen Missbrauchsakten gewähren. Weiter mahnte die Initiative eine angemessene Entschädigung an.

Die „Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung des sexuellen Kindesmissbrauchs“ erklärte, die Studie zeige, dass vor allem innerkirchliche Machtstrukturen den Schutz der Kinder untergrüben. Dringend geboten sei eine „Analyse täterfreundlicher Strategien“ in der Kirche. So müsse die Kirche das Beichtgeheimnis, aber auch die Gemeinde- und Seelsorgearbeit kritisch überprüfen. Sie müsse sich konsequent mit dem Zölibat und ihrer Haltung zur Sexualität auseinandersetzen.

Der Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Johannes-Wilhelm Rörig, machte sich für mehr Zusammenarbeit von Staat und Kirchen stark. Daran sollten auch unabhängige Experten beteiligt werden. Beispielsweise gehe es darum, genau festzulegen, welche Rechte Betroffene künftig haben müssten, etwa zur Akteneinsicht. Zugleich würdigte Rörig die Studie als „respektables Forschungsvorhaben“.Der Kriminologe Christian Pfeiffer forderte mehr Transparenz. Die Kirche müsse offenlegen, wo sie Fehler begangen habe, sagte er der „Passauer Neuen Presse“. Die Studie sei vorbildlich und exzellent aufgearbeitet. „Aber das Entscheidende fehlt: Wir wissen nicht, wer die Verantwortlichen sind.“ Es sei zudem von einer hohen Dunkelziffer auszugehen.

kna/rwm

Ihnen gefallen unsere Themen? Unsere ausführliche Berichterstattung gibt es gedruckt: Sie können unsere Wochenzeitung hier ganz bequem abonnieren!